Die nagende Kritik der Mäuse

Zur Ideologie überhaupt, namentlich der deutschen - neues Marx-Engels-Jahrbuch

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 5 Min.
Unbestritten von Freund und Feind gehören die Texte von Marx und Engels über Feuerbach aus den Jahren 1845/46, die erstmals 1926 im Marx-Engels-Archiv und sechs Jahre danach im MEGA-Band 1/5 als erster Teil der »Deutschen Ideologie« publiziert worden sind, zum Faszinierendsten, was sie je geschrieben haben. Man muss ja nicht mit ihren Auffassungen einverstanden sein. Der Schreiber dieser Zeilen hat zu gestehen, dass er sich als Nachkriegs-Student der Rechtswissenschaft die ersten siebzig Seiten des erwähnten MEGA-Bandes hat abtippen lassen, so wichtig schien ihm ihr Besitz für sein eigenes Weltbild zu sein. Exakt dieser Text ist es nun, dem sich das hier vorzustellende Marx-Engels-Jahrbuch zur Gänze widmet. So pflegen sich Kreise zu schließen. Mit diesem nunmehr von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung zu Amsterdam herausgegebenen Jahrbuch soll eine vor acht Jahrzehnten begonnene, immer wieder, zuletzt dreizehn Jahre lang unterbrochene Tradition fortgesetzt und gleichzeitig ein, wie die beiden Autoren des Editorials behaupten, »vollständiger(!) Neuanfang« gemacht werden. Solcherlei Selbstwiderspruch signalisiert keine Souveränität im Umgang mit der Vergangenheit, eher ein schlechtes Gewissen. Wer sich als Postideologe gebärdet, ist weniger noch als andere vor der Gefahr gefeit, mit einem interessierten Vorurteil gesegnet, also ein Ideologe zu sein. Die Gegenwart gar als nachideologisches Zeitalter schönzureden, ist kontrafaktisch gedacht, bedenkt man, wie in jüngster Zeit ganze Kriege herbeigelogen wurden. Mit der Vergangenheit ist man ohnehin in Kontinuität und Diskontinuität verbunden. Was wäre, um konkret zu argumentieren, dieses Jahrbuch und vermutlich auch die nächsten Bände ohne die Publikationstätigkeit von Wissenschaftlern, die sich seit Jahrzehnten der akribischen Edition des Marx-Engels-Oeuvre verschrieben haben? Anderenorts Tätige hätten es ja besser machen können. Haben sie aber nicht. Auch der vorliegende Band verdankt vor allem dem seit langem unbeirrbaren Fleiß von Inge Taubert seinen Inhalt. Und es war Galina Golovina, die bereits im Marx-Engels-Jahrbuch von 1980 den Nachweis erbracht hat, dass die bis dahin übliche Annahme nicht aufrecht erhalten werden kann, Marx und Engels hätten im Frühjahr 1845 in Brüssel beschlossen, ein gemeinsames Werk unter dem Titel »Die deutsche Ideologie« zu erarbeiten, das sie dann in einem noch nicht ganz fertigen Zustand der Nachwelt hinterlassen haben. Und schon gar nicht wurde ein solches in sich geschlossenes Werk in der Absicht konzipiert, »vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus« die »theoretischen Grundlagen der marxistischen Partei« auszuarbeiten. So aber steht es als blühender Blödsinn im Moskauer Vorwort von MEW-Band 3, in Berlin 1958 erschienen. Wissenschaftliche Editionen haben sich von politischen Passionen der Editoren wie von deren Projektionen aus späterer Sicht freizuhalten. Tatsächlich hatten nämlich Marx und Engels ihre polemischen Texte gegen Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner, Karl Grün und andere als Beiträge für eine geplante (aber nie erschienene) umfangreiche Zeitschrift konzipiert, an der mitzuwirken sie auch ihre Freunde und Gesinnungsgenossen aufforderten. Zu keinem Zeitpunkt hatten sie ihre eigenen Manuskripte in ein geschlossenes Ganzes gebracht, das sie dann, als ihr Plan platzte, unpubliziert der Nachwelt hinterließen. Genau diesen Eindruck erweckten jedoch die bisherigen Wiedergaben der Marx/Engels-Analysen des »Verwesungsprozesses des Hegelschen Systems« unter dem Titel »Die deutsche Ideologie«. Durch nachträgliche Eingriffe in die hinterlassenen Manuskripte war bisher das Vorhandensein einer so gut wie ausformulierten geschlossenen Gedankenfolge suggeriert und aus heterogenen Fragmenten ein einheitliches Feuerbach-Kapitel konstituiert worden. Indem nunmehr die überlieferten Entwürfe, Notizen und Manuskripte exakt in dem unfertigen Zustand ediert vorliegen, wie sie von ihren Autoren »der nagenden Kritik der Mäuse« überlassen worden waren, sind nachträgliche Arrangements aus fremder Feder und mehr oder weniger gut gemeinte Perfektionierungen vermieden worden. Auch wenn die bisherigen sieben Varianten einer logisch-systematischen Anordnung der überlieferten Manuskripte gewiss lesbarer sind als der nunmehrige vom Marx-Engels-Jahrbuch gebotene und vom Band I/5 der für das Jahr 2008 vorgesehenen Marx/Engels Gesamtausgabe zu vervollständigende Text - so war dieser Schritt für eine historisch-kritische Edition im Forschungsinteresse unumgänglich. Auf dieser Grundlage könnten dann auch »Leseausgaben« der »Deutschen Ideologie« entstehen. Gibt es doch inzwischen selbst vom »Kommunistischen Manifest« eine (von Thomas Kuczynski veranstaltete) Leseausgabe als Ergänzung seiner wissenschaftlichen Edition. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Auch wenn sich in den jetzt endlich in ihrer Originalstruktur zugänglichen Fragmenten, Notizen, Entwürfen und Druckvorlagen von Marx und Engels zu »Feuerbach« das Wort »materialistische Geschichtsauffassung« nicht findet (wohl aber »materialistische Anschauung« im Gegensatz zur »idealistischen Geschichtsanschauung«), der Sache, dem Begriffe nach handelt es sich insgesamt um den Beginn eines groß angelegten Versuches zweier damals noch nicht dreißigjährigen Autoren, ihrer Auffassung von Weltgeschichte und nationaler Gegenwart, von Produktion und Eigentum, von materieller und geistiger Arbeit, von Gesellschaft, Staat und Recht, von Religion und Politik, von Philosophie und Ideologie eine »materialistische Basis« zu geben. Dabei reflektierten sie ihrer Meinung nach einen objektiv vor sich gehenden Prozess, in dem es sich für den »praktischen Materialisten, d.h. Kommunisten« darum handelt, die bürgerliche Gesellschaft, eine lediglich illusorische Gemeinschaft, tatsächlich jedoch eine Herrschaft von Menschen über Menschen, aufzuheben. Solches wurde, wie gesagt, 1845/46 geschrieben. Karl Marx/Friedrich Engels/Joseph Weydemeyer: Die deutsche Ideologie: Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Reinschriftfragmente und Notizen zu I. Feuerbachs und II. Sankt Bruno. Bearbeitet von Inge Taubert und Hans Pelgar unter Mitwirkung von Margret Dietzen, Gerald Hubmann und Claudia Reichel. Akademie Verlag, Berlin 2004, Bd. 1: Text, Bd. 2: Apparat. Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. 59,80 EUR.

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