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Der Überflieger

Kaputtes Knie, aber gesunder Optimismus/ND-Besuch am Krankenbett

  • Lesedauer: 6 Min.

Ein ganz normales Krankenzimmer in der Magdeburger Uni-Klinik. Toralf hat das Fensterbett. Er sagt über Stefan Kretzschmar, der das Wandbett hütet, daß der wie jeder andere ist. Hier mag das so sein. Sonst stimmt es nicht. Stefan Kretzschmar (1,89 m) war 1994 und 1995 Handballer des Jahres in Deutschland. Er ist ein Typ, auf den viele Mädchen abfliegen. Rote Haare mit Zopf, tätowiert, Ring im Ohr, barsch in der Sprache. Gegen Kiel flog er gegen die Bande. Die Kniescheibe war herausgesprungen. Jetzt ist er ans Bett gefesselt. Krücken stehen am Nachttisch. Den 25:19-Sieg seiner neuen Mannschaft SC Magdeburg im Europapokal bei IK Sävehof in Schweden vernahm er mit Freuden. ND besuchte ihn.

? Sportstars gehen gewöhnlich zu Müller-Wohlfahrt nach München oder fliegen in die USA, wenn sie ihre Knochen oder Muskeln reparieren lassen. Warum blieben Sie in Magdeburg?

Doktor ist Doktor Ich denke, meiner hier ist ein ganz phantastischer Arzt. Die anderen haben auch nicht mehr drauf.

? Sie haben jetzt viel Zeit zum Denken. Worüber grübeln Sie?

Ich denke darüber nach, was es für ein beschissenes Fernsehprogramm in Deutschland gibt. Und dann denke ich nach, welche Tabletten ich nehme, daß ich zu viel Schlaf komme. Ich würde nachts gerne durchschlafen.

? An Handball denken Sie also nicht. Fragen wir: Olympia war für Sie doch eine Pleite. Wenige Einsätze, und dann die Mannschaft nur Siebenter.

Es gibt immer verschiedene Sichten. Ich kann nicht sagen, Olympia war Schei-ße. Ich muß als Spieler selbstkritisch und ehrlich sein. Daß da nichts wurde, ist meine Schuld. Ich hatte nicht die Topform. Der zweite Linksaußen, Christian Scheffler, war besser drauf. Hart für mich, aber eine logische Konsequenz. Ich hätte lieber gespielt und eine > Medaille“ gewonnen. Aber das sind Sachen, die mich vorangebracht haben, gerade die Negativerlebnisse.

? Ein gewandelter Stefan Kretzschmar?

Überhaupt nicht. Nur neue Erfahrungswerte. Vielen Leuten hat nicht ge-

paßt, wie ich aussah. Dafür aber den Kids. Mit mir sind sie alle in duldsamer Weise umgegangen. Als es anders kam, nach Atlanta zum Beispiel, haben viele umso schlimmer reingehauen. Ich weiß jetzt, wer was schreibt und wie ich mit ihm umzugehen habe. Es war nicht angenehm. Aber es hat mich nicht sehr interessiert. Weder vorher das Hochjubeln, noch hinterher das Draufgehaue. Beides geht mir am Arsch vorbei. Für mich ist wichtig, daß ich »ich« bleibe.

? Was ist denn Ihr Motiv, sich äußerlich so auffallend zu präsentieren?

Meine Motivation ist, daß ich immer nach meiner Motivation gefragt werde. Es ist meine Form der Ästhetik. Ich werde es auch nicht ändern, nur weil es anderen vielleicht nicht paßt. Viele lassen sich von anderen Menschen viel zu sehr leiten. Das ist doch bescheuert.

? Sie waren erst Ossi, dann Wessi, jetzt sind Sie wieder Ossi. Regt Sie diese Feststellung auf?

Nein, das ist für mich kein Ding. Ich habe keine politische Motivation. Ich sehe mich nicht als Ossi und auch nicht als Wessi.

? Als Deutscher?

Nein, auch nicht. Als Berliner vielleicht. Ich nehme alles nicht so ernst. Manche denken vielleicht, weil ich nach Magdeburg kam, daß das so etwas wie eine Ossi-Einkehr ist. Blödsinn. Genauso ein Blödsinn, wie sie drüben gesagt haben, jetzt haut ein Wessi wieder in den Osten ab. Das ist doch alles nur ein normaler Vorgang.

? Man sagt, Sie gingen deshalb von Gummersbach nach Magdeburg, weil Sie dann näher an Berlin dran sind, an Ihren Freunden.

Das sind ganz normale Kumpels, wie doch jeder welche hat. Die haben nichts mit Handball am Hut. Die Freundschaft hat über Jahre gehalten. Wir quatschen viel, und dabei merke ich, daß ich doch der Abgedrehteste bin.

? Nochmal Gummersbach. Wie fällt Ihr Urteil aus?

Ich kann die Medien nur enttäuschen, weil sie wohl hören wollen, daß ich die Zeit dort blöd fand. Die letzten zwei Jahre waren völlig in Ordnung. Nur schade, daß mein Freund Jörn Schläger aus disziplinarischen Gründen gehen mußte. Der spielt jetzt in Eisenach.

? Sie haben mal gesagt, im Osten wird zuviel gestöhnt. Kein Verständnis dafür?

Im Osten ist die Resignation zu stark verbreitet. Die Menschen lassen sich zu schnell fallen. Das ist doch nicht okay. Jetzt sagen natürlich einige, na toll, der hat gut reden, dieser junge Dachs. Sicher ist nicht alles gut. Ich habe auch Freunde, denen es nicht gut geht. Mit gesunder Einstellung ist aber mehr zu machen als mit trübsalblasen.

? Was verdanken Sie Ihren Eltern?

Viel. Ein Bombenverhältnis. Ohne sie wäre ich nicht zur Kinder- und Jugendsportschule gekommen. Ich war 1,60 groß und nur 60 Kilo schwer, quatsch, leicht. Aus meinem Jahrgang waren alle größer. Normalerweise wäre ich durch das elitäre Raster der KJS gefallen. In den ersten beiden Jahren bekam ich auch keinen Fuß auf die Erde. So mit 16/17 kam der Schub.

? Also eine schöne KJS-Zeit?

Ja, ich habe ihr viel zu verdanken und profitiere von dieser Ausbildung. Daß ich die KJS genießen durfte, war ein Privileg. Im Westen wäre das nicht möglich gewesen. Wahnsinn eigentlich, als 14jähriger zweimal am Tag zum Training. Das ist nun alles den Bach runter. Ganz schwach. Jetzt geht wenig. Schade für die Jungen, die jetzt so sind wie ich mal war. Klar aber auch, daß die KJS finanziell nicht zu halten waren.

? Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Bundestrainer Ehret, der Sie für die WM-Qualifikationsspiele gegen Polen ja nicht berücksichtigte?

Daß ich gegen Polen nicht vorgesehen war, hat schon mit Brand zu tun, der jetzt die Mannschaft übernimmt.

? Passen Sie in die Magdeburger Mannschaft?

Ja. Ich bin auf meiner Position kein spielbestimmender Typ, also muß ich mich auf die anderen einstellen. Das kriege ich hin. Wir haben ein Super-Verhältnis.

? Aber jetzt vier Monate Pause ...

Muß ich durch.

? Glauben Sie, noch einmal Handballer des Jahres zu werden?

Ja.

? Was ist das Übel des d&üts'cKäiMäri-' nerhandballs? ;:; J;; :ii ;<:::U -

Die Unkreativität. Immer nur Physis, Physis. Die spielerischen Momente werden vergessen. Der kreative Paß, der au-ßergewöhnliche Wurf, das- Auge für die Situation.

Gespräch: Eckhard Galley

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