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Manifest gegen Neutralitätsmythos

Schweiz Dr. Parin: Müssen unser Geschichtsbild revidieren Von Helen Brügger, Genf

  • Lesedauer: 3 Min.

Alarmiert durch die jüngste antisemitische Welle in der Schweiz, veröffentlichten prominente Intellektuelle - darunter Adolf Muschg und Peter Bichsel - Ende letzter Woche ein Manifest.

Das Verhalten von Bundesrat Delamuraz, der den Überlebenden des Holocaust eine Verschwörung zur Destabilisierung der Schweiz unterstellte und die Forderung nach einem Wiedergutmachungsfonds als Erpressung von Lösegeld bezeichnete, wie auch das der gesamten Landesregierung, die sich davon nicht distanzierte, beleidige »nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern alle demokratisch denkenden Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz«, heißt es in dem Papier Es wurde bereits von rund 200 Menschen unterzeichnet.

Die Unterzeichner »fühlen sich durch diesen Bundesrat nicht vertreten« und fordern, die Schweiz müsse »jeglicher offener oder versteckter antisemitischer Tendenz mit aller Entschiedenheit entgegentreten«, ihre eigene Geschichte »von Entstellungen und Beschönigun-

gen« befreien und »mit mehr Wahrhaftigkeit« neu schreiben.

Warum aber tut sich die Schweiz so schwer mit ihrer Vergangenheitsbewältigung? »Die Schweizer Politik und Au-ßenpolitik während der 30er und 40er Jahre hat seit Ende des zweiten Weltkrieges nie eine grundlegende Revision erfahren«, so Dr med. Paul Parin, einer der Initiatoren des Manifestes, gegenüber ND »Unser Lebensstandard hat sich seit 1945 derart günstig entwickelt, daß einfach kein Druck da war. Im Gegenteil, es bestand die Angst, wenn man die große Mitschuld der Landes am Unrecht des zweiten Weltkriegs, an der Vernichtung der Juden, zur Sprache bringt, dann könnte die ungebrochene Stellung des Schweizer Kapitals im Rahmen des ganzen westlichen Systems gefährdet werden«, erklärt der Psychoanalytiker und Schriftsteller

1989 hat die offizielle Schweiz 50 Jahre Kriegs-Mobilmachung gefeiert, 1995 wollte sie das Ende des Weltkrieges nicht feierlich begehen. Lange Zeit stützte sich die Schweizer Identität auf die These, sie habe dank ihrer wehrhaften Neutralität den Weltkrieg unbeschadet überlebt. Für Paul Parin, der damals Dienst geleistet hat, ein Mythos: »Die faschistische Achse Berlin-Rom beruhte u. a. auf den Eisen-

bahnlinien durch den Gotthard-Tunnel, wo Tag und Nacht in raschem Rhythmus Züge von Deutschland nach Italien und umgekehrt fuhren. Für Nazideutschland waren diese Eisenbahnlinien, aber auch die Geschäfte mit der hiesigen Industrie und Banken von großer Bedeutung. Grund genug für Hitler, die Schweiz anders zu behandeln. Die Behauptung, daß uns die neutrale Haltung gerettet habe, wurde schon damals von kritischen Zeitgenossen widerlegt. Nun holt in gewissem Sinne die Vergangenheit die Schweiz ein. Die unter äußerem Druck gemachten Enthüllungen - auch in Deutschland wurde die Vergangenheitsbewältigung ja nicht durch inneren Druck durchgesetzt - haben so etwas wie eine Identitätskrise hervorgerufen.«

Und der Psychoanalytiker Parin läßt es sich natürlich nicht nehmen, dieses Stichwort auszuführen: »Jede Identität, die auf einer Lebenslüge oder auf einem Mythos - in unserem Fall ist es die wehrhafte Neutralität - beruht, muß einmal zusammenbrechen. Es wäre zu hoffen, daß diese Identitätskrise zu einem realistischeren Bild der Schweiz beiträgt. Wenn Parlament und Bundesrat - zwar ungern und gezwungenermaßen - das Geschichtsbild der Schweiz revidieren müssen, dann geht es eigentlich um den Versuch der Reparatur eines verfälschten Identitätsbewußtseins; und die Reinigung von einer kollektiven Lebenslüge kann die Identität der Schweiz und der Schweizer nur stärken.« Wie sagt doch der Schlußsatz des Manifests: »Dann kann sich die gegenwärtige politische Krise der Schweiz auch als Chance für mehr Demokratie, Gerechtigkeit, Achtung vor dem Anderen und für ein freundlicheres Zusammenleben erweisen.«

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