Doping? Nein: Raupenpilz

  • Reinhard Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: 3 Min.
Peking September 1993: ein Skandal bei den Nationalen Meisterschaften kündigt sich an. Die Favoritin Junxia Wang blieb bei den 10000 Metern unter der 30-Minuten-Schallmauer (29:31,78) und unterbot damit den zuvor bestehenden Weltrekord um sagenhafte 42 Sekunden. Wenig später fielen die Weltrekorde auch bei 1500 Metern durch Yunxia Qu, bei 3000 Metern durch Linli Zhang und erneut durch Junxia Wang (8:06.11). Diese Rekordzeiten stehen bis heute. So viele Weltrekorde am gleichen Ort, in so kurzem Abstand? Die Skeptiker waren sich weltweit einig: Urintests würden das Doping des gesamten Frauenteams beweisen! Doch die Tests waren alle negativ. Erfolgs-Trainer Ma Zunren verwies auf rigoroses Höhen-Training in Tibet, den sagenhaften Teamgeist, auf chinesische Schildkrötensuppe (sie regelt eventuell die Menstruation) und ... auf einen kleinen Pilz, Cordyceps sinensis. Ma war zuvor Farmer gewesen. Mein Chef an der Uni, Professor Nai-Teng Yu, wunderte sich, dass ich noch nie von dem Pilz gehört hatte: »Der Pilz wird von uns Chinesen auch Winterwurm-Sommerpflanze genannt, denn man glaubte, er wäre ein Tier im Winter und eine Pflanze im Sommer. Der Pilz wird in China seit mindestens tausend Jahren benutzt. Er stimuliert das Yang (das Prinzip Himmel aus der altchinesischen Naturphilosophie - d. Red.) und somit die Lungen und Nieren und wird bei Leberproblemen, Krebs, Angina pectoris und Herzrhythmusstörungen, bei Sexproblemen und auch bei Hepatitis und Tuberkulose genommen.« Der Wunderpilz wächst in den alpinen Graslandschaften Südwestchinas, in der Provinz Yunnan, in Mittel- und Nordchina und in Tibet, in Höhenlagen bis zu 5000 Metern. Der Fruchtkörper ragt wie ein Finger oder Bleistift 4 bis 10 Zentimeter hoch aus dem Boden. Seine Lebensweise ist sehr ungewöhnlich: Er befällt unterirdisch lebende Raupen, tötet sie und treibt mit Hilfe ihrer Nährstoffe anschließend auf die Erdoberfläche. Man vermutet, dass die Raupen die Pilzsporen zufällig aufnehmen. Cordyceps ist weitläufig verwandt mit unserem Mutterkornpilz Claviceps purpurea, der auf Getreide parasitiert und einen LSD-Vorläufer bildet. In der Natur kommt der chinesische Raupenpilz nur noch vereinzelt vor. Professionelle Suchtrupps sind landesweit hinter ihm her. Der Preis je Kilogramm ist mittlerweile auf 3000 bis 5000 US-Dollar gestiegen, höher als für Trüffel. Die weltweite Nachfrage beförderte Bemühungen, den Raupenpilz zu kultivieren. Eine Biotech-Firma auf Hawaii zieht ihn inzwischen erfolgreich auf. Um die »tibetanischen« Wachstumsbedingungen zu erreichen, benutzt die Firma ein Kühlhaus. Bei genaueren Untersuchungen der Pilze entdeckte man, dass das unterirdisch wachsende Myzel noch effektiver wirkende Stoffe enthält, die jetzt als Extrakt in Kapselform angeboten werden. Wissenschaftler führen die sportlichen Leistungssteigerungen auf die positive Wirkung des Raupenpilzes für die Atmungsorgane und das Herz zurück. Er enthält neben Vitaminen und Spurenelementen hochwertige Aminosäuren sowie Polysaccharide, somit kein nachweisbares Doping! Besonders die aus der Traditionellen Chinesischen Medizin bekannte Verwendung als Aphrodisiakum (auch für Frauen) und die effektive Erhöhung der sexuellen Ausdauer wurde in einer Studie an der Medizinischen Fakultät in Peking »zweifelsfrei« nachgewiesen. Wie genau das funktionieren soll, ist noch nicht geklärt. Doch scheint es auch im Tierreich Anhänger dieser chinesischen Medizin zu geben. Denn der Pilz wird nicht nur vom Menschen, sondern auch von den im Himalaya gehaltenen Yaks in wilden Aktionen gesucht. Diese Büffel werden in der Reifezeit von Cordyceps »zum Stier«. So wie Schweine in unseren Breiten auf die in Trüffeln enthaltene, Sexhormonen ähnelnde Substanz reagieren, haben die Yaks im Cordyceps ihr »Yakrodiasicum« gefunden...

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