Der Wehrmachtsdeserteur

Kurt Hälkers Odyssee im Zweiten Weltkrieg - von der Kriegsmarine über die französische Résistance zur US-Army

»Achtung! Achtung! Hier sprechen die Beauftragten der Bewegung Freies Deutschland! Deutsche rufen Deutschen zu: Macht Schluss mit dem sinnlosen Blutvergießen! Rettet euer Leben!« Blindwütiges MG-Feuer ist die Antwort, erinnert sich Kurt Hälker beim Gespräch in seiner Berliner Wohnung. Frappierend, das Gedächtnis des über 80-Jährigen.
Kurt Hälker gehörte Ende 1944/ Anfang 1945 zu einem kleinen Trupp deutscher Antifaschisten, die an der französischen Ostfront, am Hunnigen-Kanal, in der Nähe von Habsheim bei Mühlhausen ihre Landsleute in Wehrmachtuniform zum Überlaufen bewegen wollten. Gerade mal 25 Meter trennt sie von der Einheit Niedermeyer. Da braucht es gar keinen Lautsprecher. Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1944 - es ist eine mondklare Nacht - wagt sich Kurt Hälker auf den Kanaldamm. Von Angesicht zu Angesicht könne man sich besser unterhalten, denkt er sich. Und wirft eine an einem Stein befestigte Schachtel Zigaretten über den knapp zehn Meter breiten Kanal. Zur Unterstützung seiner Überredungskünste. Das Gratisgeschenk tut Wirkung. Man kommt ins Gespräch.

Lieber Landratte als absaufen

Geboren 1922 in Duisburg in einer katholischen Familie, hat er gerade seine Gesellenprüfung als Polsterer abgelegt, als ihn der Einberufungsbefehl zur Kriegsmarine ereilt. Er will nicht als Funker auf einem Kreuzer oder in einem U-Boot, sondern als Fernschreiber auf sicherem Land Dienst tun. Und wird von Kameraden ausgelacht. Denn die drängt es nach Taten, nach Bewährung, Auszeichnung.
Bereits nach 14 Tagen erhält er Marschbefehl nach Cherbourg, wenig später nach Guernsey, eine der britischen Inseln im Ärmelkanal. Dort scheint es gemütlich und ruhig zuzugehen. Mit dem Hafenkommandanten von St. Peter Port kommt er gut aus, der Fernschreiber Kurt Hälker genießt Sonderprivilegien. Die Bevölkerung scheint friedfertig, duldsam, der schreckliche Krieg weit weg. Ist er aber nicht. »Von unserer Fernschreiberbude hatten wir Blick auf die See gen Westen«, erinnert er sich. »Eines Tages, Anfang 1942, sah ich feindliche Flugzeuge direkt, ganz niedrig, auf den Hafen zu fliegen. Sie warfen ihre Bombenlast zielgenau auf ein gerade einlaufendes Versorgungsschiff ab.« Bei der Abwehr schrillen die Alarmglocken. Woher hat der Feind seine Information? Kurt Hälker wird zum Hafenkapitän bestellt. »Der stellte uns einem Marineoffizier, Korvettenkapitän von der Abwehrstelle Rouen, vor. Der brachte seinen eigenen Funker mit, dem wir in unserem Zimmer einen Platz einräumen mussten.« Der Abwehrmann betont: »Was ich tue, geht euch einen Scheißdreck an. Egal wo ihr mich antrefft, ihr kennt mich nicht.«

Die Rache der Besetzten

Zwei, drei Tage später kommt Kurt Hälker nachmittags aus der Kantine und sieht, wie etwa hundert Meter von der Hafenkommandantur eben jener Korvettenkapitän einen Inselbewohner blutüberströmt hinter sich her schleift, mehr tot als lebendig. »Minuten später entnahm ich einem Fernschreiben, dass sein Schnellboot durch britische Jäger versenkt worden ist. Ich erschrak - über mich selbst. Denn ich habe kein Mitleid empfunden, sondern heimliche Schadenfreude«, gesteht Kurt Hälker. So duldsam und friedfertig, wie anfangs gedacht, sind die Inselbewohner also nicht, erfährt der junge Gefreite an diesem Tag.
Im März 1942 wird er versetzt, in die französische Hafenstadt Granville, in der Bucht von Sant Malo gelegen. Hier erfährt er wöchentlich von Geiselerschießungen. Und der flüchtige Gedanke reift zum Entschluss: »Abhauen, nur weg.« Aber wie und wohin?
Kurt Hälker ist mittlerweile Obergefreiter. Und seit November 1942 in Paris, als Fernschreiber im Marinestab West am Place de la Concorde, in jenem imposanten Gebäude, das vor dem deutschen Überfall Domizil des französischen Marineministeriums war (»und heute wieder ist«). Kurt Hälker sitzt an sprudelnder Nachrichtenquelle, erfährt die ganze, nackte Wahrheit über den Krieg. Seine Zweifel, Bedenken, Vorbehalte verstärken sich. Er hat den Krieg satt. Und vertraut sich einem Kameraden an, Fröhlich heißt der, Metallarbeiter aus Remscheid. Der flucht auch: »Alles Scheiße.« Gemeinsam spinnen sie Fluchtpläne. Sie wollen nach Spanien oder Portugal. »Ein irrwitziger Gedanke, was mir aber erst jemand anderes klar machen musste.«
Dieser andere ist der Maat Hans Heisel. Er tritt eines Tages in die Stube, als Kurt Hälker und Fröhlich mal wieder über den Krieg schimpfen. Hat er sie belauscht? Fröhlich flieht das Zimmer, Kurt Hälker ist starr vor Schreck. Droht ihm jetzt das Kriegsgericht? Der Maat tut unbekümmert, greift nach gerade aus dem Fernschreiber laufenden Papierstreifen und bemerkt nebenbei: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich heute Ihrem Ausgang anschließe?« Kurt Hälker verneint. Was sollte er sonst erwidern?
Mit klopfendem Herzen meldet er sich zum Ausgang. Um 22 Uhr ist Zapfenstreich, da muss er in der Kaserne sein. Wird er zurückkehren? Der Maat erwartet ihn schon. Mit der Metro fahren sie zum Trocadéro. Beim Spaziergang offenbart sich Heisel: »Ich habe bemerkt, dass Sie mit vielem nicht einverstanden, dass Sie zuweilen bockig sind. Was ist los mit Ihnen?« Kurt Hälker druckst herum, schließlich spricht der Maat Klartext: Er habe Kontakte zu deutschen politischen Emigranten und zur Résistance. »Willst du uns helfen?« Ja, er will.

Als Marinefernschreiber
Foto: Privat
»Schweinerei« im Wehrmachtskino

Wusste er, worauf er sich einließ? Ja und nein. Das Risiko hat er unterschätzt. »Daran hat man nicht gedacht. Wenn man jung ist, ist man manchmal auch unvorsichtig.« Kurt Hälker erfährt bald, dass es noch einen Mitstreiter gibt: Arthur Eberhard aus Wuppertal, ebenfalls Fernschreiber beim Marinestab West. »Zu dritt bildeten wir eine antifaschistische Wehrmachtsgruppe.« Es sollte die einzige bleiben, die nicht auffliegt und auch nicht auseinander gerissen wird durch Versetzungen. Sie bleiben bis zum Ende zusammen: Hans Heiser, Arthur Eberhard und Kurt Hälker.
Sie leiten Nachrichten an zwei Verbindungsfrauen, Maria und Mado, weiter, »wie ich später erfuhr, Lisa Gavric und Thea Beling«. Weitere Adressen, zu denen ihre Informationen wandern, sind das Atelier eines Schneiders und der Laden eine Friseurs. Die drei bemühen sich auch um Aufklärung unter den Kameraden. Kurt Hälker platziert Flugblätter im Wehrmachtskino auf dem Boulevard Montmartre - heimlich unter die Sitzplätze. Einmal, nach einer Vorführung, hört er den Aufschrei eines Feldwebels: »Schweinerei!« Das Gros der Kinobesucher liest schweigend.
Auch und vor allem Waffen braucht die Résistance. Und so schmuggeln sie Handgranaten und Patronen aus der Kaserne zu dem Herren- und Damenschneider Georges Sénéchi, der sein Atelier nahe dem Marinestab hat und Mitglied der FFI, der Forces Francaises de LIntérieur ist. Hans Heisel ist sogar so kühn, in einem Luftwaffencasino eine Pistole mitgehen zu lassen, stibitzt von der Garderobe.
Im September 1943 wird auf offener Straße Julius von Ritter, Beauftragter für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in Frankreich, von Angehörigen der Gruppe »Manouchian« erschossen. Die Attentär sind der Spanier Celestino Alfonso, der Italiener Spartaco Fontanot und der Pole Marcel Raymann. Die Tatwaffe stammt von Hans Heiser.
Auch in den Urlaub nach Hause nimmt Kurt Hälker Agitationsmaterial mit. Nachts wandert er durch die Straßen von Duisburg, steckt Flugblätter in Briefkästen oder schiebt sie unter Wohnungstüren hindurch. Fliegerangriffe erleichtern die Arbeit, denn dann sind die Straßen menschenleer. »Vor kurzem habe ich gelesen, dass damals in drei deutschen Städten Flugblätter aus Paris aufgefunden worden sind, darunter Duisburg«, erzählt mir Kurt Hälker stolz.
Nach der Landung in der Normandie und dem Vorrücken der Westalliierten gibt es nicht mehr viel zu tun in der Fernschreiberzentrale. In den Dienststellen wird eifrig gepackt. Kurt Hälker und Arthur Eberhard werden als Wachsoldaten eingesetzt. Nun ist es für sie an der Zeit, wirklich zu verschwinden - nachdem sie geistig schon längst aus Hitlers Armee desertiert sind. Ihren letzten Postendienst schieben sie am 19. August 1944 in der Ecke Rue Royal, Saint Honoré. Zuvor haben sie Zivilklamotten, die sie aus dem Wehrmachtsmagazin in der Rue Gabriel geklaut haben (»wo früher die USA-Botschaft war und es heute wieder ist«), zum Schneider Georges gebracht. Der sie zum Friseur nahe ihres Postens bringen wollte. Ein letztes Mal stopfen sie ihre Taschen mit Munition voll. In Paris wird überall geschossen, Rauchschwaden hängen über der Stadt. »Da ging es nun schon munter zu. Wir wussten nicht, dass an diesem Tag der Aufstand beginnen sollte.« Punkt zehn Uhr werden die beiden abgelöst. Schnurstracks marschieren sie, wie verabredet, zum Friseur. Unterwegs werden sie von einem Offizier, der sie kennt, aufgehalten: »Wohin wollt ihr denn?« Kurt Hälker und Arthur Eberhard sind nicht um eine Antwort verlegen. Doppelsinnig erklären sie: »Am Grand Palais brennt es, dort sind offenbar Terroristen zu Gange.«
Der Laden des Friseurs ist geschlossen. Aber George, der Schneider, ist da, erwartet sie. Und eine gaullistische Einheit, denen sie nun ihre Waffen übergeben. Kurt Hälker und Arthur Eberhard schlüpfen in die Zivilsachen. »Das war mehr eine Faschingsnummer, die wir da abgaben: moderner Frack, elegante Oberhemden ohne gestärkten Kragen und Knobelbecher.« George bringt die beiden in die Rue Le Peletier. »Wir waren überrascht. Dort wehten an einem großen Gebäude leuchtend rote Fahnen.« Es ist der Sitz des Zentralkomitees der FKP. Und Kurt Hälker alias Robert Vidal, wie sein Deckname nun als kämpfendes Résistance-Mitglied lautet, hilft das Gebäude zu verteidigen. Er ist nicht Kommunist, tritt aber jetzt der FKP bei. Und datiert nach dem Krieg, in der DDR, in jedem SED-Personalbogen seine Mitgliedschaft auf jene Tage in Paris zurück. Die Parteikontrollkommission ändert das Datum jedes Mal auf 1945. Etliche Jahre geht dieses Spielchen so weiter - bis die Zentrale Parteikontrollkommission klein beigibt.
In den Augusttagen 1944 in Paris lernt er Marcel Cachin kennen, den Grandseigneur der französischen Arbeiterbewegung, Directeur der »LHumanité«. Mit dem 1. Regiment von Paris, das sich im Kampf um die Befreiung der französischen Hauptstadt formiert hat, zieht Kurt Hälker an die Front, an die belgische Grenze, nach Mars-la-Tour, und schließlich in den Elsaß.
Als er am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1944 das Front-Gespräch vom Vorabend über den Hunnigen-Kanal mit den Wehrmachtsoldaten fortsetzen will, entgeht er nur knapp dem unerwarteten Feuerstoß. Hans Lamberts, wie Kurt Hälker Frontbeauftragter des Komitees »Freies Deutschland« für den Westen (CALPO), gelingt es nicht, rechtzeitig in Deckung zu gehen. Er stirbt im Januar an seiner Verwundung.

Aus Robert Vidal wurde Hugo Erb

Ab März 1945 macht der Duisburger in einem US-Camp in Germain-en-Laye eine Ausbildung zum Fallschirmspringer mit. »35 entschlossene deutsche Hitlergegner standen bereit.« Kurt Hälker, dessen Deckname nun Hugo Erb lautet, muss nicht mehr über dem Gebiet Innsbruck-Rosenheim abspringen, um mitzuhelfen, die imaginäre »Alpenfestung« zu knacken. Dies gelingt US-Truppen, bevor er seine Einsatzorder bekommt.
Nach der Befreiung versuchen ihn Leute des amerikanischen Geheimdienstes OSS anzuwerben. Kurt Hälker lehnt dankend ab und kehrt nach Duisburg zurück. 1947 geht er nach Leipzig, um zu studieren. Er bleibt in der DDR, wird später stellvertretender Generalsekretär des Friedensrates. 1961 begleitet er den Friedensmarsch von San Francisco nach Moskau - quer durch die DDR. In gewisser Weise ist es wieder ein »Fronteinsatz«, denn die Friedensaktivisten, »unter ihnen die Mutter des späteren Schachweltmeisters Bob Fischer«, wollen nicht akzeptieren, dass es den 13. August gegeben hat. Sie wollen, aber dürfen nicht durch Berlin marschieren. Und Kurt Hälker hat es ihnen klar zu machen. Doch das ist eine andere Geschichte.
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