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- Stalins Schauprozesse
Von Treue und Verrat, Euphorie und Entsetzen
»Stalin, Dulles und der Galgen in Prag« – eine Doku-Fiction von Hartmut König
Ein Buch – ein Wagnis. Und dieses ist gelungen. Wenngleich hier vorab gewarnt sei, eine perfide westliche Geheimdienstoperation zur Entschuldung eigener Sünden zu nutzen.
Hartmut König hat einen Roman verfasst. Auch wenn der Liedermacher sein Buch eine Doku-Fiction nennt. Er greift reales historisches Geschehen auf, das Wunden geschlagen und Narben hinterlassen hat – in jener Bewegung, die 1917 mit hehren Versprechungen angetreten ist, Millionen rund um den Globus mit Hoffnungen erfüllte, sie befreite von Unterdrückung, Ausplünderung, Raub, Entrechtung und Versklavung. Ermutigt durch ein Vorbild, das letztlich enttäuschte: der real praktizierte Sozialismus auf einem Sechstel der Erde.
Nein, Hartmut König will nicht mit Franz Kafka (»Der Prozess«) oder George Orwell (»1984«) konkurrieren. Es geht ihm nicht »nur« um Anklage, er sucht nach Erklärungen. Gründelt tiefer und weiß als jüngerer Zeitgenosse mehr, als der 1924 früh verstorbene deutsch-tschechische Schriftsteller antizipierte, oder der Brite in Spanien in den Reihen der internationalen Kämpfer gegen die faschistischen Putschisten um Franco erleben musste. Hartmut König, Jahrgang 1947, weiß um die ungeheuren Schauprozesse in der Sowjetunion in den 1930er Jahren wie auch Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre in Osteuropa, über Strukturen, Mechanismen und Personen. Nicht aus eigenem Erleben, wohl aber durch die Erzählungen der nach Jahrzehnten ihr Schweigen brechenden Betroffenen, Opfern wie Tätern sowie dank wissenschaftlicher Recherchen in den Anfang der 90er Jahre geöffneten Archiven.
Dem studierten Journalisten (der übrigens ein Volontariat beim »Neuen Deutschland« absolviert hatte), Mitbegründer des legendären Oktoberklubs, einer einst populären FDJ-Singegruppe, und im letzten Jahr der DDR stellvertretender Kulturminister, geht es in seinem Politthriller vor allem, aber nicht nur um das antisemitisch konnotierte Tribunal gegen Rudolf Slánský und Genossen 1952 in Prag, sondern auch die anderen Schauprozesse gegen kommunistische Spitzenfunktionäre in der unmittelbaren Nachkriegszeit. So jenen drei Jahre zuvor in Budapest gegen László Rajk, ebenfalls ehemaliger Spanienkämpfer, sowie den in Sofia gegen Trajtscho Kostow, einstigen Kommandeur einer Partisaneneinheit. Der in Warschau geplante Prozess gegen Władysław Gomułka kam glücklicherweise nicht zustande, doch auch der polnische Kommunist, der gegen die NS-Okkupation gekämpft hatte, wurde verhaftet und aus der Partei ausgeschlossen. In Tirana wiederum eliminierte der Begründer der Sozialistischen Volksrepublik Albanien Enver Hoxha rigoros vermeintliche Rivalen. Alles lief nach dem gleichen Muster ab und trug vornehmlich die Handschrift des NKWD-Chefs Lawrentij Berija. Hartmut König sieht allerdings auch andere Strippen ziehen. Doch von Anfang an.
In den 70er Jahren war der Autor Chefredakteur der in Prag vom Internationalen Studentenbund herausgegebenen »World Students News«. »Auch wenn man hinter dem Eisernen Vorhang lebte, war man nicht doof, nicht blind, nicht total unwissend.« An einem Januartag des Jahres 1974, als die »Rudé právo«, Zentralorgan der KP der Tschechoslowakei, den Tod des in Ungnade gefallenen KPČ-Funktionärs Josef Smrkovský vermeldet hatte, wollte der junge Deutsche in einem Lokal auf der Kleinseite von Prag ein »Staropramen« genießen, als ihn ein älterer Herr in ein Gespräch verwickelte:
Das hätte der Josef nicht verdient. »So unwürdig ins Grab geworfen zu werden. Als wäre er nicht der Anführer der kommunistischen Illegalen gewesen. Ein Held während der Nazibesetzung und eine große Hoffnung danach. Aber verraten von Stalin und seinen Prager Adepten. Verhaftet, zu Unrecht verurteilt. Nach Stalins Tod freigelassen ohne Rückkehr in öffentliche Ehre. Erst bei Dubček aufgestiegen und mit ihm wieder gefallen.« So sprach der alte Tscheche zum studentischen Funktionär aus dem Nachbarland DDR und machte ihn auf das gegenüberliegende Gebäude aufmerksam, in dem Slánský und Genossen aufgrund absurder Anschuldigungen zum Tode oder mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Das Trauerspiel der Roten an der Moldau zerfresse sein Herz, sagte der Alte noch.
Ein halbes Saeculum später erinnert sich Hartmut König an die Episode und will das Schicksal des Josef Smrkovský und seiner Leidensgenossen aufklären, kniet sich in die historische Materie und stößt nicht nur auf Misstrauen und Denunziation innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung, sondern auch auf eine gezielte Desinformationskampagne westlicher Dienste – auf die 1948 von der CIA gestartete Geheimoperation »Splinter Factor«. »Die Operation führte zu einer Spirale aus Paranoia und Repression und gipfelte in groß angelegten Schauprozessen im sozialistischen Lager.« Das ist der Stoff, aus dem Hartmut König seine Geschichte webt, aus »historischen Fakten und literarischer Imagination«.
Aufzuklären gilt das tragische Schicksal von Oskar Chesilsksi, eine erfundene Figur, dessen Lebenslauf als repräsentativ für kommunistische Funktionäre in Ost- und Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten könne. Die Doku-Fiction beginnt mit einem langen Brief, den dessen Enkel eines Tages im November 1990 von den Philippinen erhält und mit dem sich jemand am Lebensabend offenbar sein Herz erleichtern will. Der 90-jährige Absender namens Pavel Novák offenbart sich als ein Mitstreiter von Oskar Chesilsksi in britischer Emigration, als Nazideutschland Europa im Würgegriff hatte. Man habe für das US-amerikanische Office for Strategic Services (OSS) gearbeitet, im Kampf gegen den Hitlerfaschismus, innerhalb der vereinten alliierten Koalition. Chesilsksi sei nach der Befreiung sogleich in die Tschechoslowakei zurückgekehrt und habe in der KPČ hohe Funktionen übernommen, wurde dann jedoch verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Briefschreiber eröffnet dem Enkel: »Sein Schicksal indes gönnte mir seither keine Ruhe. Für mich hatte immer festgestanden, dass die öffentlich erhobenen Anschuldigungen gegen Oskar jeder sachlichen Grundlage entbehrten. Dann haben mir Verbindungen zu einem Kriegskameraden des OSS eine Spur zu Schuldigen an seinem Tod gewiesen. Ihr Herr Großvater ist einer perfiden Nachkriegsverschwörung zum Opfer gefallen.« Einige Helfershelfer seien noch am Leben.
Der Enkel, wohlbehütet in der DDR aufgewachsen, ein Fan von Che Guevara, weshalb er sich selbst auch gern Che nennt, sowie Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All, ist elektrisiert. Neugierig geworden, fliegt er nach Manila, will wissen, was geschehen ist, wer seinen Großvater diffamiert hat und warum.
In der Folge kommen abwechselnd die Involvierten in der Causa Oskar Chesilsksi zu Wort, berichten mehr oder weniger ehrlich über ihren Anteil an dessen traurigem Los. Den verantwortlichen Staatsanwalt lassen die Albträume nicht los: »Die ewigen Blitzlichter auf untilgbare Schuld. Die Verhaftungen. Die Folternächte. Die erpressten Geständnisse. Die schändlichen Urteile. Die hastigen Hinrichtungen.« Karel Soubek gesteht, er sei zum Mörder geworden. Und rechtfertigt sich: »Aber was sollte ich damals tun? Ich war in den schlimmen Jahren in der falschen Funktion. Überall in der Partei grassierte doch panische Angst vor Verrätern. Die Volksdemokratien verteidigten den gewonnenen Teil der Welt. Die Gegenmächte setzten auf Erosion in deren Innersten. Dafür brauchten sie ihre Quislinge und bestachen Genossen … Feinde mit Parteibuch musste man aus der Gesellschaft schneiden wie Krebsgeschwüre aus Menschenleibern. Und die an der Spitze zuerst.«
Aus gleichem Holz geschnitzt der sowjetische Geheimdienstoffizier und Militär Worotnikow: »Damals gab es keinen Zweifel. Alles geschah im Dienst der Sache. Auch die Entlarvung des zionistischen Agenten Chesilski. Seine Liquidierung war eine Warnung an alle Kosmopoliten, die sich in unsere Reihen geschlichen hatten.« Sein US-amerikanischer Pendant Robert Snyder, der am D-Day, der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 teilgenommen hatte und später als Doppelagent für CIA und KGB arbeitete, ist nachdenklicher, hatte aber eine nicht minder fatale Rolle in der Affäre gespielt. Gravierender jedoch die Aussage von Mark Ashley, der Oskar Chesilski 1949 als Informanten für die CIA angeworben haben wollte. Eine faustdicke Lüge: »Er fand sich wegen unüberbrückbarer politischer Differenzen mit der Führung der KPTsch und Klement Gottwald persönlich zu diesem Schritt bereit.«
Auf der anderen Seite Ari Blum, der mit Oskar Chesilski vor der Wehrmacht aus Prag geflogen war und nach dem Krieg von David Ben-Gurion nach Osteuropa geschickt wurde: »Wir suchten nach Verbündeten. Die Briten hatten uns doch gelinkt … Die Sowjetunion hatte uns schnell anerkannt und den Tschechen Order gegeben, uns Waffen zu liefern. Von den Engländern und Amerikanern war ja nichts zu erwarten.« So still wie möglich sei der Waffendeal eingefädelt worden. Mit dem einstigen Kameraden Chesilski als Unterhändler der Tschechen. Doch dann drehte sich der Wind, erzählt Ari Blum. »Plötzlich machte Stalin Front gegen die Juden an der Spitze der tschechoslowakischen KP.« Wer Kontakt zu einem gewissen Noel H. Field hatte, während des Krieges Leiter des Unitarian Service Committee (USC), einer US-amerikanischen Hilfsorganisation, die Juden zur Flucht vor den deutschen Antisemiten verhalf, galt nunmehr als Handlanger des imperialistischen Weltjudentums. Ari Blum wird verhaftet, soll gegen Chesilski aussagen: »Alles Schlangenwörter, so erstunken und erlogen wie kreuzgefährlich. Wenn ich in den Verhören beteuerte, jederzeit mit sowjetischem Plazet verhandelt zu haben, wurde ich niedergeschrien ...« Er schämt sich, seinen Widerstand aufgegeben zu haben: »Aber selbst die Angeklagten legten doch Geständnisse ab, deren Absurdität mir so klar war wie den Verhörspezialisten. Erst die Knochen, dann die Ehre – das war zumeist die Reihenfolge.« Letztlich wird auch Ari Blum erschossen, in Tel Aviv.
Unglaublich, wie viele Menschen in die Verschwörung verstrickt sind. Und wie viele sinnlos starben oder für immer gebrochen waren. Natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte. »Die Nacht mit dem kleinen Chesilski war schön«, sagt Irkat, deren Vater auch Opfer Stalinschen Verfolgungswahns war und die dennoch eine gläubige Kommunistin ist. In ihrem Monolog wird unter anderem die sogenannte »Ärzteverschwörung«, Stalins letztes großes Verbrechen, angesprochen. Und die Geheimrede von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Vor allem aber ausführlich die Operation »Splinter Factor« als eine der perfidesten Spionage-Coups der CIA: »Eine Schande, wie Allen Dulles das tödliche Frame-Up für die Agency eingefädelt hat. Wie er den harmlosen linken Philanthropen Noel Field zu einem gewieften Agentenwerber werden ließ, der aus dem West-Exil heimgekehrte Kommunisten angeblich in amerikanische Spitzeldienste getrieben hat. Und wie man einen Überläufer aus dem polnischen Geheimdienst namens Józef Światło diese Lüge in Stalins Ohr flüstern ließ, was für so viele Kommunisten, die mit Field in Verbindung gebracht wurden, Tod und Gefängnis bedeutete.«
Das Ende des Politthrillers ist überraschend. Die Geschichte ist wahrlich bühnenreif, mit Shakespearescher Würze. »Wo Liebe und Treue, da auch Verrat, wo Ergebenheit auch Enttäuschung, wo Euphorie da auch Entsetzen, wo Illusion auch Desillusion.«
Hartmut König: Stalin, Dulles und der Galgen in Prag. Doku-Fiction. Das Neue Berlin, 128 S., br., 14 €.
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