Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Junge oder Mädchen -Timing ist (fast) alles

US-Forscher behauptet: Über den Zeitpunkt der sexuellen Vereinigung kann das Geschlecht des Kindes beeinflußt werden

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Martin Koch

Mehr als die Hälfte aller Deutschen, so haben Umfragen ergeben, wünschen sich ein Kind bestimmten Geschlechts. Normalerweise liegen die Chancen für die Erfüllung ihres Wunsches bei etwa 50 50. Dennoch gibt es Fälle, wo dieses ausgewogene Verhältnis empfindlich gestört ist. In Deutschland etwa wurden nach den Weltkriegen überdurchschnittlich viele Jungen geboren, so, als habe die Natur das Defizit an gefallenen Männern wieder ausgleichen wollen. Auch bei den Havasupai-Indianern im US-Bundesstaat Arizona, deren Geburten die Forscher seit 1868 registrieren, kam es zu Ungleichgewichten: Während das erst- bzw zweitgeborene Indianerbaby fast anderthalbmal häufi-

ger ein Junge als ein Mädchen war, kehrte sich dieses Verhältnis ab dem drittgeborenen Kind wieder um.

Seit langem suchen Ärzte nach Möglichkeiten zur individuellen Geschlechterplanung. Den Durchbruch nach 35jähriger Forschung reklamiert jetzt der amerikanische Arzt Landrum B. Shettles für sich. Sein unlängst erschienenes Buch wurde in den USA bereits zum Bestseller Darin steht: Findet der Geschlechtsakt zwei Tage vor dem Eisprung und in »Missionarsstellung« statt, wird die Geburt eines Mädchens wahrscheinlich. Hingegen sei ein Junge zu erwarten, wenn der Akt am Tag des Eisprungs und in »Löffelstellung« erfolgt.

Wichtigste Ursache für diesen Unterschied sind laut Shettles die Spermien, von denen es bekanntlich zwei Sorten gibt. Eine Hälfte trägt das männliche Y-Chromosom, die andere das weibliche X-

Chromosom. Bei der Befruchtung der Eizelle, die stets ein X-Chromosom besitzt, sind also die Kombinationen XX (Mädchen) und XY (Junge) möglich. Der springende Punkt ist der Gewichtsunterschied: Y-Spermien sind viel leichter als X-Spermien, die mehr Erbinformation mit sich herumschleppen. Sie legen den Weg zur Eizelle schneller zurück als ihre X-Konkurrenz. Dafür verlieren Y-Spermien rascher ihre Energie und ihre Fähigkeit, die Wand der Eizelle zu durchstoßen. Das heißt: Erfolgt der Geschlechtsakt unmittelbar am Tag des Eisprungs, sind die flinken Y-Spermien im Vorteil. Müssen die ejakulierten Spermien aber zwei Tage auf die Eizelle warten (solange überleben sie nämlich im Körper der Frau), sind meist nur noch X-Spermien befruchtungsfähig. Nur einen Tag vor dem Eisprung haben beide Spermiensorten annähernd die gleichen Chancen.

Das könnte erklären, warum erstgeborene Kinder häufig männlichen Geschlechts sind. Denn am Anfang einer Beziehung, wenn die Liebe noch heiß ist, schlafen die Partner häufig miteinander Deshalb stehen zum Zeitpunkt der Eisprungs fast immer frische Y-Spermien zur Verfügung, die das Wettrennen mit den X-Spermien für sich entscheiden.

Dennoch: Was theoretisch plausibel klingt, stößt in der Praxis auf vielerlei Schwierigkeiten. Der Münchner Gynäkologe Otfried Hatzold, der die Zeitwahlmethode unabhängig von Shettles entdeckte, räumt ein: »Mit Sicherheit gibt es viele Faktoren, die neben dem Zeugungstermin auf die Geschlechterbestimmung einwirken, ohne daß wir es wissen.« Am schwierigsten sei es, den Zeitpunkt des Eisprungs im voraus genau zu bestimmen. Hier genüge schon eine Fehlkalkulation von einigen Stunden, um den möglichen Vorteil eines Spermientyps wieder auszugleichen. »Bei der Prägung des Geschlechts ist der Einfluß des Zufall überwältigend und durch Tricks nur geringfügig zu modifizieren«, resümiert Jene Dimer vom Berliner Virchow-Klinikum und fügt hinzu: »Zum Glück!«

Nun, in Deutschland ist die Vorliebe der Eltern für Söhne und Mädchen annähernd gleich: auf 100 gewünschte Mädchen kommen 106 gewünschte Jungen. Die meisten Paare möchten Kinder beiderlei Geschlechts. Es gibt jedoch auch Länder wie Indien, wo Söhne viel mehr

als Töchter gelten. Nicht umsonst beklagte der Weltkongreß für Gynäkologie, der im August 1997 in Kopenhagen stattfand, daß die Zahl heranwachsender Mädchen dort deutlich geringer sei als sie laut Geburten-Wahrscheinlichkeit sein müßte. Viele Familien ließen ihren weiblichen Nachwuchs einfach umkommen. Unter diesen Umständen könnte eine gezielte Geschlechtswahl von Neugeborenen katastrophale demographische Konsequenzen haben.

In einem Bereich allerdings dürfte die Geschlechterplanung künftig eine größere Rolle spielen: in der medizinischen Prophylaxe. So wird die erbliche Bluterkrankheit (Hämophilie) nur an Söhne weitergegeben. Das heißt: Würden gefährdete Frauen (die nicht krank sind, aber die Erbanlage tragen) ausschließlich Mädchen zur Welt bringen, träte die Krankheit erst gar nicht auf. Bereits 1973 gelang es den Charite-Ärzten Günter Dörner und Wolfgang Rohde, mittels Zentrifugation die schweren X-von den leichten Y-Spermien zu trennen. Da man in der DDR auf die Fortführung der Forschungen verzichtete, übernahmen japanische Ärzte die in Berlin entwickelte Methode und führten seit 1981 mit derart gewonnenen X-Spermien künstliche Befruchtungen durch. Ob und wieweit dieses Verfahren ethisch vertretbar ist, wird im Zusammenhang mit den neuerlichen Diskussionen um die Gentechnik zu klären sein.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

- Anzeige -
- Anzeige -