- Politik
- »Prenzlauer-Berg-Connection«. Ein Rückblick
Der Reiz, sich ins Ungewisse zuwerfen
Die Aura ist zerstört. Das Personal in alle Winde verflogen. Was aber war da, was war die Literatur des Prenzlauer Berg? Jene Ansammlung von zumeist jüngeren Schriftstellern und Künstlern, die mit dem Sozialismus, so wie er sich in der späten DDR darbot, nichts mehr im Sinne hatten und ihn per sprachkritischer Ästhetik und rabulistischer Lebensart eher ignorierten als attackierten? War sie eine spezifische Form der Revolte, die ihre »quertreiberischen Energien gegen politische und ästhetische Doktrinen« einsetzte, oder war sie ein von der Staatssicherheit inspiriertes Phantom, wie prominente Kritiker es nach der Wende richtunggebend deuten wollten?
Ein Insider versucht, aus dem Abstand der Jahre und einer ganzen Epoche heraus diese Fragen zu beantworten. Der Germanist Peter Böthig war involviert in Projekte, die in jenen 80er Jahren am Prenzlauer Berg und anderswo entstanden, er hat an Debatten teilgenommen,
die im legendären »Wiener Cafe« und anderenorts geführt wurden. Mit Repräsentanten der Szene war er befreundet oder gut bekannt. Den Gefahren allzu gro-ßer Nähe zum Gegenstand, die daraus resultieren, begegnet er durch akademische Strenge und auffällige Theorie-Intensität. Die Vorteile solch intimer Kenntnis hingegen sind unübersehbar.
Hat er doch selbst den Reiz verspürt, der davon ausging, »sich ins Ungewisse, ins Unverbürgte einer zugegeben reichlich chaotischen Kunstproduktion zu werfen«. Böthig weiß um die Intentionen der Akteure und vermag ihren Texten deshalb auch dann einen Sinn abzugewinnen, wenn sie sich dem Außenstehenden nur sehr schwer erschließen. Denn er war schon damals auch in die politische und poetologische Selbstverständigung der Szene einbezogen, die er hier nun gründlich erörtert, ihren Charakter, aber auch ihre Grenzen deutlich bezeichnend.
Den geschichtlichen Ort der Prenzlauer-Berg-Künstler fixiert er eindeutig als den der Opposition. Darin läßt er sich auch durch ihre geheimdienstliche Unterwanderung nicht irritieren. Und wer sich der konkreten Situation erinnert, der
Bedingungen, die diese Art von Kunstleistung hervortrieben, des offiziösen Widerstands, auf den sie stieß, wird sich dieser Einschätzung nicht verschließen können.
Der Oppositionscharakter der »Prenzlauer-Berg-Connection« (Adolf Endler) war jedoch weniger vordergründig politisch, eher sprachkritisch, spielerisch, dekonstruktiv; er unterlief die herrschenden Hierarchien, stellte die Subjekt-Identifikationen in Frage und problematisierte die großen Begriffe der Moderne-Debatte. Getragen war er von einem Pathos des absoluten Bruchs, das ganz unpathetisch daherkam. Ein Vorzug des vorliegenden Buches ist es, daß solche Konzepte nicht nur - wie meistens - an der Lyrik, sondern auch in der Prosa (von Jirgl, von Koziol) durchbuchstabiert werden. Diese Art künstlerischer Produktion war subversiv, indem sie sich aus dem politischen und ästhetischen Zusammenhang, der ihre Umgebung dominierte, ausklinkte, ihn für nicht mehr beachtenswert hielt und dadurch seine Hinfälligkeit demonstrativ ausstellte. Ihre Formensprache war mannigfach, originell, artistisch, voller Spontaneität. Oft genug war diese Kunst ag-
gressiv satirisch. Auch, das brachten die Umstände mit sich, provisorisch.
Böthig fehlt es heute nicht an kritischer Distanz. So scheint es ihm unumgänglich, manche, auch zentrale, Aspekte des künstlerischen Konzepts jener Jahre ernsthaft neu zu durchdenken. Ferner findet er viel Illusionäres - die Nachwende-Zeit hat es gelehrt. Das Steckenbleiben in kleinen Zirkeln und die mangelnde Differenzierung im Künstlerischen macht er dafür verantwortlich, daß dieser Aufbruch einer Generation es zu keiner tragfähigen, zusammenhängenden ästhetischen Theorie gebracht hat.
Natürlich wird die Durchsetzung der Szene mit informellen Mitarbeitern nicht ausgespart. Sie stellte, schreibt Böthig in einer gewissen Ohnmacht angesichts des für ihn eigentlich Unfaßbaren, »einen gewaltigen Triumph der real existierenden Verrücktheit dar«. Fälle wie Anderson und Schedlinski werden ausführlich behandelt. Die Konsequenzen, die er daraus zieht, sind weitreichend: Das Projekt einer politischen und ästhetischen Gegenkultur müsse damit als gescheitert betrachtet werden. Bleibend aber sei die politisch-moralische und künstlerische Leistung der Bespitzelten als Arbeit an einer gegenwärtigen »condition humaine«.
In einem dichten Text führt er diese Leistung vor. Der französische Poststrukturalismus, Grundlage schon des ästhetischen Denkens der jungen Poeten und Künstler in den 80ern, beeinflußt maßgeblich Methode, Struktur und Diktion der Arbeit. »Diskurs« ist wohl der am meisten gebrauchte, auch überstrapazierte Begriff. Von erheblichem Wert sind die im Text und im Anhang abge-
druckten Dokumente (die fast die Hälfte des Buchumfangs einnehmen). Der Ehrgeiz des Verfassers freilich, von hier aus die späte DDR-Literatur zu bilanzieren, führt in die Enge. Selbst wenn große Namen wie Christa Wolf, Heiner Müller und Erich Arendt angepeilt werden, verharrt dieser Entwurf doch in einer gewissen Einseitigkeit. Gleichwohl gelingt manch treffliche Beobachtung wie etwa die vom »Auffächern des Diskurses DDR-Literatur« in jener Zeit oder das polemische Infragestellen des vereinfachten Schemas »Staatsdichtung versus Widerstandsliteratur«.
Gelegentlich kommt Böthig auf heutige Konstellationen von Autoren des Prenzlauer Berg zu sprechen. Zwar sei ihre kulturelle Identität eingestürzt, wären »Kompatibilitätsprobleme« und Leerlauf zu vermerken, immerhin aber könnten sie sich jetzt »freier und gelassener« entfalten als zuvor. Das mag bei dem einen oder anderen neue Perspektiven eröffnen. Doch jene halbillegale Gewichtigkeit, jene beträchtliche Wirkungspotenz einer eher spielerisch daherkommenden kritischen Literatur, die den Beteiligten wohl manchmal eine schwierige Last war, sie aber gleichzeitig zu ausnehmenden Kunstleistungen inspirierte, ist ein für allemal Geschichte. Die nicht nostalgisch, aber achtungsvoll zu behandeln ist. Im Streit um die Macht der Deutung jüngster deutscher Literaturentwicklung leistet das Buch von Peter Böthig dazu einen ernsthaften Beitrag.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.