Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Die Inflationsweihnacht vor 75 Jahren

Oh, du Fröhliche alles ist wertlos

  • Klaus Brüske
  • Lesedauer: 5 Min.

»Michel im Schneegestöber«, Karikatur im »Wahren Jacob« zur Inflation 1922

Ende Dezember 1922 will in Millionen deutschen Haushalten keine rechte Festtagsstimmung aufkommen. Noch nie seit Generationen ist die allgemeine Not so groß - wirtschaftliche Folgekatastrophe des maßgeblich vom deutschen Imperialismus entfesselten Ersten Weltkieges. Hunger, Elend und Sorge um die Zukunft erfaßt breite Teile der Bevölkerung: Arbeiter, Bauern, kleine Angestellte, Freiberufler, Künstler, Gewerbetreibende und Handwerker, vor allem aber die Kriegsinvaliden und Kriegerwitwen. Sie alle müssen um ihre Existenz bangen. Hingegen wieder einmal nicht jene, die am Krieg verdient hatten. Sie berührte die Inflationsweihnacht des Jahres 22 kaum.

Die »Berliner Illustrirte Zeitung« registriert als »Zeichen unserer Armut« eine Vermehrung der Bettler, »Polonäsen« vor den Geschäften, Kampf um Heizmaterial in den Wäldern und auf Schuttplätzen ... Bei den Durchschnittsdeutschen liefen die Lebenshaltungskosten den Löhnen und Gehältern um Längen davon. Mitten in der Adventszeit, am 21. Dezember, verabschiedete das Kabinett unter Reichskanzler Wilhelm Cuno eine Denkschrift zur Wirtschaftslage der Nation, wonach seit Kriegsende der freie Brotpreis auf das 13OOfache und der Milchpreis auf das 79Ofache gestiegen sei, während die Löhne, etwa des gelernten Durchschnittsarbeiters, nur auf das 455fache geklettert waren. Zu ähnlicher Erkenntnis kam der Oberbürgermeister der »Reichshauptstadt«, Gustav Böß. Er brachte eine Broschüre unter dem Titel »Die Not in Berlin - Tatsachen und Zahlen« in Umlauf. Danach bekam ein mittlerer Beamter nur noch 41,4 Prozent sei-

nes Gehalts von 1913, ein Buchdrucker 53,8 Prozent und ein Bergarbeiter im Ruhrgebiet 62,2 Prozent seines einstigen Lohns. Besonders erschreckend, so Böß, sei das Kinderelend in der gesamten inflationsgeschüttelten Weimarer Republik. Im westdeutschen Industriegebiet seien ein Viertel bis ein Drittel der schulpflichtigen Knaben und Mädchen unterernährt. In Berlin und zahlreichen anderen Städten Deutschlands wären ein Fünftel aller Schüler durch Krankheit und Unterernährung am Schulbesuch verhindert.

Man kann sich vorstellen, daß da aus der »Fröhlichen Weihnacht« nichts wurde. Zu einem finanziellen Problem wurde für viele Familien schon der Kauf des traditionellen Weihnachtsbaums. Viele begnügten sich mit Tannengrün. Aber auch ein einzelner Zweig kostete bereits 50 Mark, ein ganzer Baum jedoch 400. Wucherer trieben die Preise noch weiter in die Höhe. Auf dem Tempelhofer Feld mußte die »Schutzpolizei« eingreifen, als empörte Berliner den Verkaufsstand eines Händlers stürmten, der für eine Fichte 700 Mark verlangte. Die Schupo konfiszierte daraufhin den Stand und verkaufte die Bäume für 373 Mark das Stück.

Noch tiefer mußte man in die Tasche greifen, wollte man Kindern und Enkeln eine Kleinigkeit auf den Gabentisch legen. Eine Zelluloidpuppe für 1000 Mark war da noch billig. Teddybären gab es erst ab 10 000, Schaukelpferde gar erst ab 17 000 Mark. Für eine mit Dampf- oder Elektrizität betriebene Spielzeuglokomotive mußten bis zu 48 000, für einen Modellbaukasten bis 90 000 Mark über die Ladentheke wechseln.

In ihrer Festtagsnummer zum 24725. Dezember servierte die »Berliner Illustrirte Zeitung« das Resümee des Jahres: Es sei geradezu vernichtend für die deutsche Währung gewesen. Gestartet sei man ins Jahr mit 186 Mark pro Dollar,

gelandet bei über 8000 Mark, ließ man die Leser wissen. Was damals noch keiner ahnte: Das Schlimmste stand noch bevor

In seinem Roman »Wolf unter Wölfen« schreibt Hans Fallada: »Irgendwo in dieser Stadt stand eine Maschine ... und erbrach Tag und Nacht Papier über der Stadt, das Volk. >Geld< nannten sie es. Sie druckten Zahlen darauf, wunderbare, glatte Zahlen mit vielen Nullen, die immer runder wurden. Und wenn du gearbeitet hast, wenn du dir etwas erspart hast auf deine alten Tagen - es ist alles wertlos geworden, Papier, Papier und Dreck.«

Auf dem Höhepunkt der Inflation im Hochsommer bis Spätherbst 1923 arbeiteten in ganz Deutschland 300 Papierfabriken und 150 große Druckereien mit 2000 Pressen Tag und Nacht - und schafften es doch nicht, den Bedarf an Geld»wert«zeichen zu decken. Man schätzte damals den Bargeldumlauf in der Weimarer Republik auf eine Zahl, die sich jenseits der Vorstellungskraft bewegte: 400 338 326 350 700 000 000 Mark.

Dann aber, am 15. November 1923, als der Dollar bei 4,2 Billionen Mark stand, kam das »Wunder der Rentenmark«. Die Staatskasse hatte die inneren Kriegsschulden des »Deutschen Reiches« in Höhe von 154 Milliarden Goldmark über die Inflation auf Heller und Pfennig »zurückgezahlt«. Die Riesensumme stellte am »Tag X«, ab dem das wertlose Papiergeld im Verhältnis 1:1 Billion in die Rentenmark umgetauscht werden konnte, exakt noch den Wert von 15,4 (!) Pfennigen des Jahres 1914 dar. Unglaublich, aber wahr: Rein fiskalisch betrachtet war der Erste Weltkrieg derart der billigste Krieg aller Zeiten.

Doch zu den Gewinnern der Inflation gehörten 1922/23 nicht allein der Staat und all die anderen großen, verschulde-

ten Grund-, Haus- und Sachwertbesitzer. Skrupellose Spekulanten konnten zu riesigen Vermögen kommen. Der im Herbst 1922 als Archetypus des Schwarzmarktschiebers und Währungsspekulanten durch die verschiedenen Ausgaben der »Berliner Illustrirten« wandelnde »Herr Raffke« zählte dazu - vom hauseigenen Zeichner Theo Matejko geboren: Raffke in Frack mit Schmerbauch, Wohlstandszigarre, Kneifer und obligatorischem Brillantring am Finger. All die großen, mitt-

leren oder kleinen Raffkes waren aber noch Waisenknaben gegen den Ruhrindustriellen Hugo Stinnes, Kriegs- und Inflationsgewinnler par excellence. Mit hohen Entschädigungssummen für »seine Verluste« in Elsaß-Lothringen, das an Frankreich ging, sowie dann mit Bankkrediten, die er mit wertlosen Scheinen zurückzahlte, kaufte er sich zusammen, was er bekommen konnte-. Banken, Hotels, Fabriken, Zeitungen - ein riesiges Imperium...

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.