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Der flinke Adolf
Hannelore Graff über ihren Vater, den Aktivisten Adolf Hennecke, »der den Ring sprengte«
Graff: Nichts, überhaupt nichts. Wir haben von seinem Vorhaben keine Ahnung gehabt. Auch meine Mutter nicht. Mein Vater hat zu Hause nie etwas über seine Arbeit erzählt. Es ist nicht seine Art gewesen.
Und wie erfuhren Sie davon?
Ich erinnere mich, dass ich an dem Tag nachmittags vor dem Haus gespielt habe. Da kam ein Auto an, und aus diesem stieg mein Vater. Das war sehr ungewöhnlich. 1948 waren Autos eine Rarität, erst recht bei uns in der Kleinstadt. In Lugau hatte damals nur der Arzt ein Auto. Und nun kam mein Vater vorgefahren. Und hatte obendrein einen Blumenstrauß in der Hand: bunte Astern. Eine doppelte Überraschung. Mein Vater hat meiner Mutter nie Blumen mitgebracht. Da stand er also, lächelte und sagte zu mir: »Ja, heute ist ein besonderer Tag.« Am Küchentisch hat er dann kurz berichtet, aber nicht viel. Er war eher wortkarg, wenn es um ihn ging.
Ihr Vater hat sich auf diese Schicht besonders vorbereitet. Und da haben Sie nichts bemerkt?
Nein. Er ist wie immer früh aus dem Haus gegangen, an diesem Tag eine Stunde früher. Offizieller Schichtbeginn war um 6 Uhr, er wollte sich aber zuvor noch vor Ort davon überzeugen, ob alles war, wie er es sich gedacht hatte.
Er hat sich schon Tage vorher umgeschaut, Notizen gemacht. Und am Vorabend seine Kumpels gebeten, die schon bereitgelegten Werkzeuge liegen zu lassen. Er hat sich genau überlegt, wie er vorgehen müsste. Da waren drei Arbeitsgänge zu bewältigen: Kohle abbrechen, wegräumen, Abbauort ausbauen.
Mitunter liest man, es sei für ihn alles optimal vorbereitet worden?
Nein, nur das Flöz konnte er sich aussuchen. Mein Vater hatte bereits als Arbeitsinstrukteur gearbeitet und erkannt, dass eine höhere Arbeitsproduktivität nicht unbedingt von der Zulieferung des Materials, sondern vor allem von besserer Arbeitsorganisation abhängt.
Um 387 Prozent hat er die Norm überboten. Und wurde von einigen Kumpels als »Arbeiterverräter« beschimpft. Hat ihn das gekränkt?
Es hat ihn schon sehr berührt. Aber er war davon überzeugt, dass es richtig war, was er gemacht hat. Um aus den Teufelskreis »schlechte Versorgungslage - zu niedrige Arbeitsproduktivität« auszubrechen. Auf der Gedenktafel für seine Aktivistentat im Bergbaumuseum Lugau steht: »Der den Ring sprengte«. Das finde ich sehr treffend.
Aber dennoch wurde seine redliche Initiative damals von vielen abgelehnt. Manche wollen, als er aus dem Schacht kam, geballte Fäuste gesehen haben.
Es stimmt, dass viele Kumpel seine Tat ablehnten. Manche schimpften ihn »Kubiker«. Auch Witzeleien machten die Runde: »Willst wohl so flink wie Hennecke sein«. Und ein Professor im Westen schrieb meinem Vater damals, bezweifelte seine Leistung. Er errechnete, dass mein Vater in der Minute zwei Zentner Kohle hätte schaufeln müssen, und bemerkte, dass er dies keinesfalls hätte schaffen können.
Und was meinte Ihr Vater da?
Hennecke antwortete ihm: »Wenn Sie wollen, machen wir Ihnen mal vor, dass wir sogar mehr als zwei Zentner schaffen. Da können Sie ruhig dabei zusehen.«
Treffen Sie noch heute auf solche Zweifel?
Ja, als ich mit meinen beiden Enkeln im Oktober vergangenen Jahres im Bergbaumuseum war, behauptete ein Besucher: »Die Schicht ist doch getürkt gewesen, eine solche Leistung konnte keiner erbringen, dessen Magen knurrte. Der Hennecke soll vorher Sonderrationen bekommen haben.« Und er meinte: »Dieser Mann muss sehr einsam gewesen sein.« Die Museumsführerin hat daraufhin gesagt: »Die Tochter von Hennecke ist hier. Sie können sie ja fragen.«
Und was antworteten Sie?
»Ja, vielleicht war mein Vater eine kurze Zeit einsam. Warum sollten ihn auch alle Bergleute gleich verstehen?« Wenn hohe Leistungen gefordert wurden, winkten die Kumpel natürlich erst einmal ab: »Gebt uns erst mehr zu essen, dann können wir auch besser arbeiten.« Ich habe dem Besucher - ich glaube, er kam aus dem Westen - auch erzählt, wie viele Brotmarken Schulden wir bei unserem Bäcker in Lugau hatten. Uns ging es nicht besser als anderen. Vielleicht etwas besser als jenen Familien, deren Väter und Ernährer nicht aus dem Krieg zurückgekommen sind. Wir hatten einen tüchtigen Vater, der versuchte, uns satt zu kriegen. Uns hat oft der Magen geknurrt.
Und immerhin, bereits sechs Tage nach seiner Schicht haben meinem Vater fünf Kumpels nachgeeifert. Sie schafften bis zu 260 Prozent der Norm, andere erreichten später sogar über 500 Prozent.
Und dabei sind die Bedingungen damals unter Tage wahrlich nicht mit denen heute zu vergleichen.
So ist es. Das Steinkohlerevier Sachsen war mit ca. 600 Meter das tiefst gelegene in ganz Deutschland. Je tiefer man fördert, umso größer ist die Hitze. Es herrschten Bedingungen, wie sie die Ruhrkumpel im Westen nicht kannten und kennen. Die Ausrüstung war ungenügend, die Geräte waren veraltet. Auf vier Hauer kam ein Pickhammer, also ein Presslufthammer - ein schweres Ding. Hochachtung vor den Bergleuten, die damals oft vor Hunger geschwächt waren. Und auch schon deshalb kaum überragende Arbeitsleistung erbringen konnten.
Das größte Problem aber waren die Arbeitskräfte. Der Krieg hatte viele Bergmänner das Leben gekostet. Man musste also auch auf die Umsiedler aus Schlesien und Pommern zurückgreifen, die jedoch zumeist diese schwere körperliche Arbeit nicht gewohnt waren und bald wieder verschwanden. An manchen Tagen fehlten rund 15 Prozent der Bergleute, das ergab 20000 Fehlschichten im Monat. Nicht selten waren Diebstähle. Der Not geschuldet. Manche Bergleute fuhren nur ein, um ein Stückchen »Armut«, wie damals ein Brocken Steinkohle genannt wurde, im selbst genähten Beutel unterm Arm versteckt oder in der leeren Milchkanne nach Hause zu nehmen, für den eigenen Ofen oder um es gegen Lebensmittel einzutauschen.
Eigentlich war für die Aktivistentat ein anderer auserkoren...
Ja, Franz Franik, der die Norm schon mit 160 Prozent überboten hatte. Aber zu mehr war er nicht bereit. So kam man dann auf meinen Vater. Ursprünglich wollte er 250 Prozent schaffen - und schaffte dann wesentlich mehr.
War Franik im Nachhinein neidisch auf Ihren Vater?
Nein. Mein Vater und er waren befreundet, die beiden mochten sich.
Ihr Vater wurde als Held der Arbeit gefeiert. Wurde zur Propagandafigur. Schmeichelte ihm das?
Er war erschrocken über das, was danach alles mit ihm passierte. Die Zeitungen kamen, der Rundfunk, nach zwei Tagen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Eine Woche später hat ihm die Gewerkschaftsleitung des Karl-Liebknecht-Schachtes eine Urkunde überreicht; die habe ich noch. Tage, ja Wochen breiteten sich Reporter in unserer Küche aus und interviewten meinen Vater. Für meine Schwester und mich gab es bald kein schöneres Spiel als diese Interviews nachzustellen. Vor allem haben wir dieses Verlegenheits-»Äh« gerne nachgemacht: »Nun, äh, Herr, äh, da haben Sie also, äh...« Das haben wir stundenlang zelebriert, bis Vater sagte: »Jetzt reichts!«
Fühlte er sich veralbert?
Nein, bei diesen Spielchen nicht. Aber bei anderer Gelegenheit, da wurde er schon ein bisschen sauer. Er hat uns ja auf viele Veranstaltungen, zu vielen Diskussionsrunden mitgenommen. Wir haben immer mitgehört. Und eines der großen Schlagwörter damals war: »Partei neuen Typus«. Als ich mit meiner Schwester auch darüber witzelte, hat er uns ermahnt: »Darüber macht man keine Witze!« Meine Mutter hat mir irgendwann mal, Jahre nach dem Tod meines Vaters 1975, ein kleines Bild gezeigt. Ich fragte: »Warum zeigst du mir das jetzt?« Sie sagte: »Na guck doch mal.« Darauf war unser Vater zu sehen, bei irgendeiner Veranstaltung im Präsidium. Und dahinter stand in großen Lettern: »Partei neuen Typus«. Da mussten wir beide lachen.
Die Prämie, die Ihr Vater damals für seine Rekordschicht erhielt, macht sich im Vergleich zu heutigen - vor allem für Fußballer - sehr bescheiden aus...
Ja, drei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Schnaps, eineinhalb Kilo Fett und 50 Deutsche Mark. Und diese kleine Prämie wollte er sich noch mit den zwei Kumpeln teilen, die an diesem 13. Oktober 1948 an seiner Seite waren.
Der Nationalpreis, den Ihr Vater erhielt, fiel üppiger aus: 100000 Mark waren 1949 sehr viel.
Ja, im August 1949, zum 200. Geburtstag Goethes in Weimar ist ihm der Nationalpreis verliehen worden. Neben Thomas Mann. Diese Ehre ihm, einem Arbeitersohn, fünftes von acht Kindern. Mein Vater stand auf der Bühne und sagte: »Wenn das doch meine Mutter mit erlebt hätte!« Er war stolz. Aber von dem vielen Geld ist uns fast nichts geblieben. Weshalb auch Walter Ulbricht mit Vater schimpfte. Mein Vater hat alles verschenkt.
Seine Kinder gingen leer aus?
Nein, wir Töchter bekamen jeder ein neues Kleid und einen Wintermantel geschneidert. Aber das wars dann. Vater kaufte sich noch ein Auto, Marke EMW. Und doch war alles Geld eins, zwei, drei weg. Weil er anderen gegenüber, sogar ihm völlig fremden Menschen, so großzügig war. Er war nun bekannt und viele schrieben ihm ihre Nöte oder Probleme. Und er half, wo er konnte. Ein Sportverein benötigte neue Trikots, eine FDJ-Gruppe wollte ihren Klubraum ausgestalten, ein anderer bat, die Kosten für die Hochzeit seiner Tochter zu übernehmen. Hennecke machte es. Einem kaufte er sogar ein Klavier für den Sprössling. Und so weiter.
Henneckes Aktivistenbeispiel folgten über die Jahre viele in den anderen Industriezweigen...
Und die hatten es leichter.
Wieso?
Sie wussten, worauf sie sich einlassen, auch, dass es hinterher einen Orden gibt und viel Geld. Und später auch einen Lada. Das alles hat Hennecke nicht wissen können. Deshalb sind die folgenden keine geringeren Helden. Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber das gesellschaftliche Umfeld war schon ein anderes und machte vieles leichter.
Natürlich hat es im Bergbau auch schon vorher Sachprämien gegeben. Mein Vater selbst hat schon 1948 gesagt: Eine solche Leistung, wie er sie schaffte, kann man nicht ständig, nicht täglich bringen. Auch er hätte das nicht zwei Mal pro Woche machen können.
Wie verlief ein normaler Tag bei Henneckes vor dem Aktivistentag?
Wir haben ein einfaches Leben geführt. Vater fuhr morgens zur Arbeit, mit kläglich belegten Bemmen und einer Kanne Muckefuck. Am Nachmittag werkelte er in unserem Garten, baute Tabak an, zu Tauschzwecken, hielt sich Kaninchen, Hühner und eine Ziege, ging am Sonntag mit Kumpels sein Bierchen trinken und klopfte Skat. Er war kein Kind von Traurigkeit. Manchmal nahm er auch uns Mädels mit. Das war für uns ganz toll.
Und war er ein Frauenheld, wie man mitunter hörte?
Nein. Es hieß zwar später, bei uns seien »die Weiber ein und aus gegangen«. Wie soll das geschehen sein, bei einer Zwei-Zimmer-Wohnung und einem Fünf-Personen-Haushalt? Unsere Wohnung in Lugau war eng und bescheiden. Es hieß auch später: Er habe viel getrunken. Das alles habe ich nicht bemerkt. Natürlich, nach seiner Rekordschicht war Vater selten zu Hause. Und wenn er bei uns war, waren da auch viele Leute bei uns zu Hause, fast immer am Wochenende. Manchmal wohnten wochenlang irgendwelche Menschen bei uns, dass wir Kinder und Mutter manchmal schon genervt waren. Da ging es zwar oft lustig zu, aber Alkoholexzesse und Weibergeschichten - alles Quatsch.
Wie ist er damit klar gekommen, als er später Funktionär und Abgeordneter wurde, einen Sekretär hatte und »rumgereicht« wurde?
Er blieb der alte, hob nicht ab. Einen Sekretär hatte er nur anfangs, vor allem, um die Flut von Briefen zu beantworten. Er schrieb seine Reden selber. Ich bewunderte immer seine Intelligenz. Er hat viel gelesen, war sehr vielseitig interessiert. Und hat auch darauf geachtet, dass wir Kinder Theater und Oper kennen lernten. Eigentlich sollte und wollte er ja nicht Bergmann werden. Aber bei der Massenarbeitslosigkeit in den 30er Jahren blieb ihm nichts anderes übrig.
Hat er sich also als Funktionär wohler gefühlt als als Bergmann?
Das weiß ich nicht. In seinem Herzen blieb er Bergmann. Seine Funktionen führte er wie alles diszipliniert durch. Ich erinnere mich aber auch, dass er sich gern gut kleidete und stets darauf achtete, gut auszusehen.
An Ihrem ehemaligen Wohnhaus gab es eine Gedenktafel. Die ist nach der Wende gestohlen worden. Wissen Sie weshalb und von wem?
Nein. Der Fall ist nicht aufgeklärt. Als wir das erste Mal nach der Vereinigung wieder dort waren, hat mein Mann einen Bewohner des Hauses gefragt: »Sagen Sie, hat hier nicht der Hennecke gewohnt?« Der bestätigte: »Ja«, wusste aber nicht, wie das Schild abhanden kam.
Der Erinnerung an Ihren Vater ging es nach 1989 wie vielen und vielem, was an die DDR erinnert.
Ja, Hennecke wurde verteufelt, offizielle Stellen und Besserwisser bemühten sich, viel Dreck über ihn und die Aktivistenbewegung auszukippen. Straßennamen wurden getilgt, Schulen umbenannt. Mit der Delegitimierung der DDR musste auch seine Leistung delegitimiert werden. Hennecke wurde diskreditiert, nur weil er Volkskammerabgeordneter und ZK-Mitglied war.
Sie waren Lehrerin. Sprachen Sie mit Schülern über Hennecke?
Ich wurde darum von meinen Kollegen und vielen anderen Schulen ausdrücklich gebeten.
Und waren stolz?
Schon, aber, was heißt »stolz«? Es war immer auch Verpflichtung, Hennecke-Tochter zu sein.
Die Tochter über den Vater:
Empfinden Sie es als eine Last, einen berühmten Vater zu haben?
Nein, überhaupt nicht.
Welche Stärken schätzen Sie an ihm?
Seine Intelligenz, seine Ehrlichkeit, seine Bescheidenheit und seine Lebenslust.
Welche seiner Schwächen lehnen Sie ab?
Über diese Schwächen lohnt es sich nicht zu reden.
Welche seiner Eigenschaften würden Sie gern besitzen?
Seine Zielstrebigkeit und sein logisches Denken.
Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Ja. Er war für uns Kinder immer da.
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