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  • Politik
  • »Beutekunst« bleibt in Rußland - Verfassungsgericht verurteilte Präsident Jelzin

Mit der Gegenrechnung in der Hand

  • Katja Kabernik
  • Lesedauer: 4 Min.

Der russische Präsident muß sich fügen: Er soll das umstrittene Gesetz unterschreiben, das die im Zweiten Weltkrieg durch die Sowjetarmee in Deutschland erbeuteten Kunstschätze zum Eigentum Rußlands erklärt. Die Richter des russischen Verfassungsgerichts entschieden gestern in Moskau, Jelzins Unterschrift müsse unverzüglich unter das »Beutekunst«-Gesetz. Mit der Ablehnung des Gesetzes habe Jelzin seine Kompetenzen überschritten.

Jelzin hatte vor dem Obersten Gericht geltend gemacht, die Zwei-Drittel-Mehrheit, mit der beide Parlamentskammern letztes Frühjahr das Veto des Präsidenten gegen das Gesetz überstimmt hatten, sei nicht auf saubere Weise zustandegekommen, und hatte seine Unterschrift verweigert. Einige Abgeordnete des kom-

munistisch dominierten Parlaments hätten trotz eigener Abwesenheit andere überredet, für sie mitzustimmen. Daß Jelzin in Fällen ihm genehmerer Gesetze diese Praktiken geflissentlich übersieht, war für die Richter wohl ein Argument, das ihre Entscheidung beeinflußte. Doch auch damit ist der Streit um die Kulturgüter noch nicht ausgestanden: Sergej Schachrai, Jelzins Vertreter vor dem Verfassungsgericht, erklärte, der Kreml werde nun den Inhalt des Gesetzes anfechten, denn es verstoße gegen internationale Verpflichtungen Moskaus. Jelzin will die »Beutekunst«, ohne Wertausgleich zu verlangen, an Deutschland zurückgeben. Seit Jahren belastet die Kontroverse das deutsch-russische Verhältnis. Die Bundesregierung verlangt entschieden die Rückgabe der Kunst- und Kulturschätze, beruft sich auf den »Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit« vom 9 November

1990 und das deutsch-russische Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit vom Dezember 1992. Beide Seiten hatten ihre Absicht erklärt, die Verhandlungen »möglichst bald zu konkreten Ergebnissen« zu führen. Doch als die eigens zu diesem Zweck gebildete Rückführungskommission im März 1994 in Moskau zusammentraf, roch es schon nach Streit. Zwar empfahl der russischen Föderationsrat unter anderem die Rückgabe der Gothaer Buchbestände und der sogenannten Baldin-Sammlung der Bremer Kunsthalle. Kisten wurden gepackt und standen abfahrbereit. Doch das Protokoll enthielt auch jenen Haken, an dem alle weiteren Verhandlungsbemühungen hängen blieben. Eine eigens gebildete Fachgruppe für Rechtsfragen wurde beauftragt, Vorschläge zur Rechtsauslegung der bilateralen Vereinbarungen auszuarbeiten. Ein Gutachten des russischen Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften empfahl schließlich,

die erbeuteten Kulturgüter zu russischem Eigentum zu erklären. Die Kisten mußten wieder ausgeräumt werden. Irina Antonowa, Direktorin des Puschkin-Museums, zog plötzlich den Schatz des Priamos aus dem Ärmel, dessen Existenz in ihren Kellern sie stets abgestritten hatte. In Bremen inszenierte ein Advokat ein Medienspektakel um ein wiederentdecktes Mosaik des sagenumwobenen Bernsteinzimmers. »Schliemann-Gold gegen Bernsteinzimmer!« titelte damals die russische Regierungszeitung »Iswestija«.

Rein vom juristischen Standpunkt aus gesehen ist die Lage eindeutig. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 stellt völkerrechtlich verbindlich Werke der Kunst und Wissenschaft unter besonderen Schutz. Das »Beutekunst«-Gesetz ist der Versuch, die unrechtmäßige Inbesitznahme der im Krieg erbeuteten Kulturgüter nachträglich und völkerrechtswidrig zu legalisieren. So sieht es auch Boris Jelzin. »Was von uns einfach mitgenommen wurde, wie zum Beispiel die Bremer Kunstsammlung mit den wunderbaren Dürer-Zeichnungen, müssen wir zurückgeben«, sagt Rußlands Kulturminister Jewgeni Sidorow. Mit der Gegenrechnung in der Hand.

Das russische Kultusministerium hat angekündigt, in den kommenden Monaten einen umfassenden Katalog aller während des Zweiten Weltkriegs in Rußland gestohlenen oder verlorengegange-

nen Kulturgüter aufzustellen. Dabei dürfte es um entschieden mehr gehen, als sich in Kisten verpacken ließe. Allein im Umkreis von St. Petersburg requirierte die Wehrmacht bei der Belagerung Leningrads sämtliche Schlösser. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, vom Bernsteinzimmer bis zur Türklinke, wurde abtransportiert. Nach dem Abzug der deutschen Armee fanden die Leningrader nur noch schwelende Ruinen vor. Für die im Krieg zerstörten oder verlorengegangenen Kunstwerke, steht - auch das ist Völkerrecht - Rußland Ersatz zu. Kulturgüter aus russischem Besitz, die sich noch in Deutschland befinden, kann der russische Staat zurückverlangen und notfalls bis zu deren Herausgabe Kunstwerke aus deutschem Besitz zurückhalten.

Nach dem Krieg wurden viele der in Deutschland sichergestellten russischen Kulturgüter zwar wieder in ihre Heimat gebracht. Vermutlich noch mehr Werke aber waren zerstört oder an Privatleute, auch im Ausland, verkauft worden. In jedem Fall wird die endgültige Entscheidung der russischen Richter nach Jelzins erneutem Vorstoß vor dem Verfassungsgericht, der nicht lange auf sich warten lassen dürfte, das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland beeinflussen. Wohl vor allem deshalb sind dem Kreml alle erdenklichen Möglichkeiten willkommen, das endgültige Wort noch hinauszuzögern.

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