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  • Politik
  • Hans-Ulrich Treichel: »Der Verlorene«

Findelkind 2307

  • Hannes Würtz
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Verlorene - solch ein Titel könnte bei Thomas Mann entlehnt sein. Er zielt kompakt und konsequent auf das Hauptanliegen dieser Erzählung: Einer Familie, die es nach Ostwestfalen verschlug, kam während des winterlichen Trecks im letzten Kriegsjahr der anderthalbjährige Sohn abhanden. Aus dem Morgennebel waren sowjetische Truppen aufgetaucht, dem Vater hielten sie ein Gewehr vor die Brust, angedeutet ist die Vergewaltigung der Mutter, eine fremde Frau nahm den Jungen in ihre Arme ...

Man kommt über den Verlust des Kindes nicht hinweg, sucht mit Hilfe des Roten Kreuzes, während der nachgeborene zweite Sohn, aus dessen Sicht hier alles erzählt ist, sich in eine Nebenrolle gedrängt sieht, einen »Dritten Weltkrieg« herbeiwünscht, damit sein Bruder Alfred, so er noch lebe, schleunigst verhungere. Die aus dem Osten Zugewanderten im aufstrebenden Wirtschaftswunderland: Berichtet der eifersüchtige Junge eingangs noch unkonkret von seinem »beruflich erfolgreichen« Vater, gibt es ab

der Mitte endlich Genaueres. Der Erzeuger versucht es zunächst mit einer Leihbücherei, dann mit Lebensmitteln und schließlich mit einem expandierenden Fleischgroßhandel. Beim großen Schlachten, mit Schweinekopf, Blutsuppe und Blutkuchen, gibt es intensive Szenen. Mitten in diesem Rausch macht die Mutter das »Findelkind 2307« in einem Heim ausfindig. Dieser Heinrich könnte ihr verlorener Sohn Alfred sein. Jedoch schließt ein anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten mit 99,37 Prozent aus, daß es sich um die Eltern des Findelkindes handelt. Die untröstliche Mutter möchte adoptieren, doch der junge Mann, inzwischen Fleischerlehrling im Weserbergland, wurde längst einer anderen Familie zugesprochen. Sie fährt in die kleine Stadt, um sich von Angesicht zu überzeugen, steigt dann aber nicht aus dem Auto, während ihr Junge durch die Schaufensterscheibe lugt und erschrickt, »denn Heinrich sah aus wie er, wie sein um einige Jahre älteres Spiegelbild«. Ein höchst überraschender, novellistisch zugespitzter Endsatz. - Die vom Verlag gepriesene Lakonie und Komik konnte ich freilich im Buch kaum ausmachen. Zumal

thematisch ähnliche Nachkriegsgeschichten im Gedächtnis sind: Peter Abrahams »Die Schüsse der Arche Noah« und Alfred Wellms »Pugowitza« etwa, gleichfalls, jedoch blutvoller, aus jugendlicher Sicht erzählt. Bei Treichel (Jahrgang “52), der bislang drei Gedichtbände und zwei Bände mit Prosaberichten vorlegte, finden sich leider etliche Ungereimtheiten. Wie beispielsweise gelangt ein Treck aus Rakowiec, Kreisstadt Gostynin (die Namen deuten ins Posensche), nach ganz weit oben »westlich von Königsberg«, wo doch alle westwärts flohen? Wie kam der Vater - ein Foto zeigt ihn als schlanken, jungen Soldaten - in den Treck? Wie entging er der in Ostpreußen seinerzeit üblichen Gefangenschaft? »Er, der zweimal, nach beiden Weltkriegen, erleben mußte, Haus und Hof zu verlieren« - auch dieser Satz hätte einer gründlicheren Nachfrage bedurft.

Dem jugendlichen Berichterstatter wird in Westdeutschland, geht es um Ostpreußen, global von »den Russen« gesprochen, (kein Gesicht, keine Stimme). Wenn er im Radio russische Worte hört, wußte er, »daß den Russen alles zuzutrauenwar«. Und Professor Liebstedt, der die erbbiologischen Gutachten fertigte, erinnert sich dieserart an die Kriegsjahre: »Die Russen konnte man nicht mal als Knechte gebrauchen.«

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