Über die Ostsee zum Zahnarzt

Immer mehr Schweden reisen zur kostengünstigen Behandlung nach Estland

  • Bernd Parusel, Stockholm
  • Lesedauer: 3 Min.
Während in Brüssel über Änderungen an der EU-Dienstleistungsrichtlinie verhandelt wird, nutzen viele Schweden die schon vorhandenen Vorteile des freien Binnenmarkts.
Billigfluglinien und Sonderangebote von Ostsee-Reedereien machen es möglich: Immer mehr Schweden kaufen alkoholische Getränke, Zigaretten und neuerdings auch Dienstleistungen im Ausland ein. Alkohol ist in den Nachbarländern Dänemark und Finnland deutlich günstiger, und noch billiger ist er in Deutschland. Hat man als Nordeuropäer dagegen Beschwerden mit den Zähnen, fährt man am besten nach Estland.
Medienberichten zufolge ist die Zahl der Schweden, die den »Zahngesundheitszentren« und Privatpraxen ihrer Heimatländer den Rücken kehren, in den letzten Monaten stark angestiegen. Immer mehr lassen sich in der estnischen Hauptstadt Tallinn behandeln. »Die Hälfte unserer Patienten kommt bereits aus Schweden oder Finnland. Ich denke, in Zukunft werden es noch mehr sein«, meint ein Zahnarzt der Klinik CityMed in Tallinn. Nach einer im Internet verfügbaren Preisliste kosten Zahnfüllungen bei CityMed zwischen 10 und 51 Euro. Schwedische Zahnärzte berechnen, abhängig vom Material der Füllung und vom Zustand des Zahns, zwischen 40 und 170 Euro.

Verlockende Alternative
CityMed ist deshalb eine verlockende Alternative zum heimatlichen Arzt, da schwedische Patienten durchschnittlich drei Viertel der Kosten für Zahnbehandlungen aus eigener Tasche bezahlen müssen. Und die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt ihren Anteil an den Behandlungskosten unabhängig davon, ob sie im In- oder Ausland anfallen. Die Krankenkasse »Försäkringskassan« rät Patienten sogar ausdrücklich, die Preise für Zahnbehandlungen zu vergleichen. Lässt man sich in Tallinn gleich mehrere Behandlungen auf einmal geben und nutzt den Aufenthalt zusätzlich zum Einkaufsbummel, sind die Reisekosten schnell wettgemacht.
Damit gewinnt eine neue Art des Tourismus über die Ostsee an Fahrt. Einige Reisebüros in den Großstädten Stockholm und Göteborg haben sich bereits auf »Gesundheitsreisen« spezialisiert und buchen für ihre Kunden neben dem Platz auf der Fähre oder im Flugzeug sowie dem Hotelzimmer in Tallinn gleich einen Zahnarzttermin mit. Der Reiseveranstalter »Estlandspecialisten« verweist auf die »gut etablierte Zusammenarbeit mit der CityMed-Klinik in Tallinn«. Diese verfüge über »die besten Ärzte«, die von der Zahnreinigung bis zur Prothese alles erledigen - zu »Preisen, die dich glücklich machen«.
Der schwedische Zahnärzteverband gibt sich indes gelassen. Noch müssten sich die Mediziner keine Sorgen machen, bald keine Kunden mehr zu haben. Der Verbandsvorsitzende Roland Svensson erklärt gegenüber ND, bisher wisse niemand genau, wie viele Schweden tatsächlich bereit seien, zur Zahnbehandlung extra in Ausland zu reisen. Angesichts der gravierenden Preisunterschiede könnten es jedoch mehr werden, räumt er ein. Svensson schließt indes aus, dass schwedische Zahnärzte ihre Preise senken könnten, um sich gegenüber der Konkurrenz im Osten besser zu behaupten. Ein Wettkampf um die niedrigsten Kosten wäre wohl von Anfang an verloren.
Beim Streit um die geplante EU-Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes setzt sich Schweden in Brüssel dafür ein, dass »empfindliche Wirtschaftssektoren« vor schädlicher Konkurrenz aus dem Ausland geschützt werden können. Dazu zählt die Regierung etwa das Bildungswesen, soziale Dienste und auch die Gesundheitsversorgung. Arbeitnehmervertreter, allen voran die Baugewerkschaft Byggnads, gehen unterdessen an verschiedenen Orten mit Blockaden gegen Unternehmen vor, die Arbeiter aus Estland, Lettland oder Polen zu Dumpinglöhnen beschäftigen. Sie sollen dazu gebracht werden, sich an schwedische Tarifbestimmungen zu halten.
Der Politik sind die Hände gebunden
Derartige Einflussnahme hilft aber nichts, wenn nicht ausländische Wettbewerber nach Schweden kommen, sondern Schweden ins Ausland fahren, um sich die Zähne kostengünstig reparieren zu lassen. Dabei sind Regierung und Gewerkschaften die Hände gebunden.

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