- Ratgeber
- Arbeitslosengeld II
Erst die Arbeit verloren und dann auch noch die Wohnung - was tun, wenn der »blaue Brief« kommt?
Diese blauen Briefe machen vielen Arbeitslosen Angst: Erst geht der Arbeitsplatz verloren. Dann folgt der Absturz ins ArbeitslosengeldII, von dem niemand leben kann. Und schließlich ist auch noch die Wohnung in Gefahr. Ein Irrsinn: Angeblich geht es doch darum, Erwerbslose wieder in Arbeit zu bringen. Dazu ist es kontraproduktiv, ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen und die bisherige Wohnung zu nehmen.
Welche Leistungen für Miete und Heizung stehen den Betroffenen laut Gesetz zu? Was kann getan werden, um die Wohnung zu behalten, wenn das Amt meint, sie sei zu teuer? Die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen in Berlin gibt im Folgenden einige Tipps, wie man sich gegebenenfalls wehren kann.
Was steht dem einzelnen
laut Gesetz zu?
Das Amt muss die tatsächlichen Miet- und Heizkosten in voller Höhe zahlen. Aber nur, soweit diese »angemessen« sind. Was angemessen ist, wird jeweils vor Ort festgelegt: Die Städte und Gemeinden bestimmen, wie groß eine Wohnung höchstens sein darf und was ein Quadratmeter maximal kosten darf. Diese Obergrenzen sind aber nur dann rechtens, wenn auch tatsächlich Wohnungen zu diesen Preisen am Wohnort zu bekommen sind. (Hoffentlich wissen das auch die Beamten.) Wenn das Amt die Wohnung für zu teuer hält, dann wird der Mieter aufgefordert, die Kosten zu senken, z.B. indem er ein Zimmer untervermietet oder in eine billigere Wohnung umzieht. Allerdings muss das Amt erst einmal auch unangemessen hohe Kosten weiter zahlen, solange es nicht möglich oder nicht zumutbar ist, die Kosten zu senken - im Regelfall aber längstens für sechs Monate.
Übergangsfrist von
maximal sechs Monaten
Die sechs Monate sind leider keine sichere Bank, die den Betroffenen auf jeden Fall zustehen. Es ist nur die maximale Übergangsfrist im Regelfall. Das Amt kann auch vorher schon verlangen, Kosten zu senken und diesbezügliche Bemühungen zu belegen.
Wenn es hart auf hart kommt, kann niemand gezwungen werden, umzuziehen. Es gibt einen Rechtsanspruch darauf, zumindest die »angemessenen« Miet- und Heizkosten zu erhalten. Allerdings wird dies vielen ALG-II-Beziehern nichts nutzen, weil das Geld fehlt, den fehlenden Anteil an den tatsächlichen Kosten selbst zuzuschießen, denn bekanntlich gibt es gar kein ArbeitslosengeldII, wenn man noch genügend Rücklagen hat.
Wenn das Amt nun mitteilt, die Wohnung sei zu teuer oder sogar schon dazu auffordert, die Kosten zu senken, dann sind zunächst einige Dinge zu prüfen.
Entscheidend für die angemessenen Kosten ist der Mietpreis insgesamt und nicht die einzelnen Faktoren wie Wohnungsgröße und Quadratmeterpreis. Nur die Heizkosten sind gesondert zu betrachten.
Beispiel: In Musterstadt gelten folgende Obergrenzen für ein Paar mit Kind: maximale Wohnungsfläche: 75 Quadratmeter, maximaler Quadratmeterpreis: 5Euro (Kaltmiete ohne Betriebs- und Nebenkosten). Familie Mustermann zahlt aber 6 Euro pro Quadratmeter für ihre 60 Quadratmeter große Wohnung. Obwohl der Quadratmeterpreis »zu teuer« ist, darf das Amt den Mustermanns keine Probleme machen. Denn sie zahlen unterm Strich mit 360 Euro weniger als die erlaubten 375 Euro (= 75 qm mal 5 Euro).
Viele Ämter gehen nach »SchemaF« vor und verschicken automatisch blaue Briefe, wenn die Obergrenzen für die angemessenen Kosten überschritten werden. Das ist nicht zulässig. Vielmehr sind die Ämter gesetzlich verpflichtet, die Besonderheit des Einzelfalls zu prüfen. Entscheidend sind also die ganz persönlichen Lebensverhältnisse. So gibt es gute Gründe, warum Menschen eine größere Wohnung brauchen oder ihnen auch höhere Unterkunftskosten zustehen.
Zum Beispiel
wenn bei Schwangerschaft ein zusätzlicher Raum für das Kind benötigt wird;
wenn im Haushalt ein Mensch mit Behinderungen lebt (behindertengerechtes Wohnen);
wenn eine Person selbstständig oder freiberuflich tätig ist und dafür ein Arbeitszimmer benötigt.
»Unangemessen hohe« Kosten können auch gerechtfertigt sein, um Menschen (schneller) mit normalem Wohnraum zu versorgen - z.B. Bewohnerinnen von Frauenhäusern bzw. von Gewalt bedrohte Frauen oder Wohnungslose aus Notunterkünften.
Auch bei der Prüfung der Heizkosten müssen die persönlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Hier kann gegebenenfalls vorgebracht werden, dass die Wohnung schlecht isoliert ist oder viele Außenwände hat und sich die Heizkosten deshalb nicht senken lassen.
Ausnahmesituationen
sind zu berücksichtigen
Wurden die persönlichen Verhältnisse richtig berücksichtigt und trotzdem die Miete für zu hoch befunden, sollte überprüft werden, warum das so ist. Dann ist zu überlegen, welche Gründe es dafür gibt, dass eine Kostensenkung und vor allem ein Umzug nicht zumutbar ist. Denn Ausnahmen von der Sechs-Monats-Frist sind möglich: Unter Umständen muss das Amt die »unangemessen hohen« Kosten auch länger zahlen. Solche Ausnahmefälle können sein:
im Haushalt lebt eine ältere Person (über 60 Jahre),
Schwangerschaft,
Krankheit oder Behinderung,
wenn (durch einen Umzug) die Aufnahme oder Fortführung einer Erwerbstätigkeit oder Qualifizierungsmaßnahme wesentlich erschwert würde,
wenn - insbesondere bei allein Erziehenden - die Kinderbetreuung gefährdet würde (Betreuungspersonen in der Nachbarschaft, Entfernung zur Kita / Kindergarten),
wenn ein Schulwechsel notwendig wäre,
wenn die Kosten nur geringfügig die Obergrenze übersteigt und die mögliche Ersparnis in keinem Verhältnis zu einem Umzug steht,
wenn im Haushalt kürzlich ein Todesfall eingetreten ist.
Widersprüche sind
hinreichend zu begründen
Wenn Sie sich gegen die Aufforderung zur Senkung der Miet- oder Heizkosten und damit verbundener Leistungskürzungen wehren wollen, dann sollten Sie folgendes beachten:
Fall 1: Das Amt belehrt Sie über die angemessen Miet- und Heizkosten am Ort. Es teilt Ihnen mit, dass Ihre Kosten unangemessen sind und fordert Sie auf, die Kosten auf einen bestimmten Betrag zu senken. Gleichzeitig werden Sie zu einer Stellungnahme aufgefordert.
Nutzen Sie die Stellungnahme: Legen Sie die Gründe dar, warum in Ihrem persönlichen Einzelfall die Kosten doch angemessen sind beziehungsweise warum Ihnen eine Kostensenkung und vor allem ein Umzug nicht zugemutet werden kann. Wenn Sie diese Stellungnahme bei einem persönlichen Gespräch auf dem Amt abgeben, dann können Sie eine Person Ihres Vertrauens - einen Beistand - mitnehmen.
Fall 2: Das Amt fordert Sie auf, Ihre Kosten zu senken. Es nennt einen Termin, zu dem Sie Nachweise über Ihre Bemühungen vorlegen müssen. Das Amt droht zudem an, bei fehlenden Nachweisen ab dem genannten Termin nur noch die »angemessenen« Kosten zu zahlen.
Warten Sie nicht bis die Frist abläuft, sondern werden Sie aktiv: Beantragen Sie, dass Ihnen dauerhaft die tatsächlichen Kosten gezahlt werden. Begründen Sie den Antrag mit ihrer persönlichen Situation, mit einem besonderen Bedarf oder damit, dass eine Kostensenkung bzw. ein Umzug nicht zumutbar ist.
Fall 3: Bei Ihnen liegen keine besonderen Umstände und Gründe vor, die Sie davor schützen, ihre Kosten senken zu müssen. Das Amt verlangt entsprechende Nachweise über Ihre Bemühungen.
Klären Sie mit dem Amt konkret, welche Bemühungen von Ihnen erwartet werden und wie Sie diese nachweisen sollen. Mit den Nachweisen können Sie gegebenenfalls belegen, dass Sie keine billigere Wohnung finden können.
Fall 4: Sie bekommen einen Kürzungsbescheid. Darin steht, dass Sie ab dann und dann nur noch die »angemessenen« Miet- und Heizkosten erhalten.
Legen Sie Widerspruch ein, wenn Sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids haben.
Zusätzlich ist unbedingt ein »Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung« zu stellen. Mit einem solchen »Aussetzungsantrag« kann erreicht werden, dass vorläufig die vollen Leistungen weiter gezahlt werden, bis über die Sache endgültig entschieden wurde.
Vor Klageerhebung
sorgfältig beraten lassen
Falls der Widerspruch abgelehnt wird, sollte auch eine Klage vorm Sozialgericht in Erwägung gezogen werden. Gerichtskosten entstehen nicht und auch ein Anwalt ist in den ersten beiden Instanzen nicht zwingend erforderlich - allerdings wäre es günstig, wenn ein kompetenter Anwalt die Klage begleitet. Aber bekanntlich gibt es den nicht umsonst. Aber auch ohne einen solchen juristischen Beistand müssen die Gerichte den Sachverhalt von Amts wegen aufklären.
Bevor eine Klage eingereicht wird, sollte man sich unbedingt bei einem der Sozialverbände vor Ort oder seiner Gewerkschaft beraten lassen. Beispieltexte für einen Widerspruch bzw. einen »Aussetzungsantrag« stehen im Internet unter www.erwerbslos.de.
Wie bereits oben gesagt, wird die Höhe der »angemessenen« Mietkosten von den Kommunen selbst festgelegt - entsprechend den örtlichen Gegebenheiten. So sieht es das Gesetz vor. Ob das korrekt so gehandhabt wird, ist zumindest zweifelhaft. So hat zum Beispiel der Berliner Senat kürzlich für die Stadt folgende Richtwerte für die Warmmiete festgelegt:
1-Pers.-Haushalt 360 Euro
2-Pers.-Haushalt 444 Euro
3-Pers.-Haushalt 542 Euro
4-Pers.-Haushalt 619 Euro
5-Pers.-Haushalt 705 Euro
Der Mieterverein bezeichnete die Richtwerte für die Bruttowarmmiete als zu niedrig. Die Mietbelastung, so Hauptgeschäftsführer Hartmann Vetter, sei in vielen Fällen höher. »Es wird sozial experimentiert, ohne die Folgen für die Betroffenen und die Wohnquartiere abschätzen zu können.«
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