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m.i.i.u.ijj.imi Zukunft im Industrie-Skelett

Landesausstellung im Kraftwerk Vockerode Von Marcel Braumann

  • Lesedauer: 4 Min.

Vier gigantische Schornsteine und ein 300 Meter langer Kraftwerksklotz nahe der Autobahn Berlin-Nürnberg und unweit der Stadt Dessau sind zur Kulisse eines provisorischen Museums mutiert, in dem Sachsen-Anhalt über seine Zukunft nachdenken läßt.

Die Ausstellung endet mit dem Ende des Kraftwerks Vockerode: »Die Abschaltung des Werkes wurde in der Schaltwarte durchgeführt in Gegenwart zahlreicher Kraftwerker«, steht unter den letzten Fotos, »sie vermitteln eindringlich die große Verbitterung über den Verlust von Arbeitsplatz und Identität.« Als am 10. Oktober 1994 um 12.08 Uhr das mächtige Braunkohlekraftwerk an der Elbe vom Stromkonzern Veag vom Netz genommen wurde, wird aber auch aufgeatmet, denn nicht nur die nahegelegenen Wörlitzer Parkanlagen und die Dübener Heide sind durch Flugasche und Schwefeldioxid-Ausstoß strapaziert worden. Laut Werksarchiv wurden z. B. 1968 täglich 120 Tonnen Flugasche emittiert,

zehn Jahre später war in einer Umweltschutzanalyse von deutlicher Überschreitung der Grenzwerte die Rede.

Die schweflige Asche war der Preis für 1500 Arbeitsplätze im Kraftwerk, eine Zahl, die heute nur noch von den Exponaten der ersten kulturhistorischen Landesausstellung »Mittendrin« erreicht wird, eingelagert in die zwölf stillgelegten Brennkessel. Die Beschaffung der Leihgaben, zu denen Kostbarkeiten wie die Lutherkanzel, das Cranach-Bild »Abendmahl« und das älteste deutsche Gesetzbuch, der »Sachsenspiegel«, gehören, war oftmals schwierig. Nicht jedes Museum war von der Idee begeistert, mittelalterliche Skulpturen oder Tafelgemälde aus dem 16. Jahrhundert für die Präsentation in einem abgetakelten Industriebau herzugeben. Gottfried Korff, Mitglied der Lenkungsgruppe der Ausstellung, klagte, daß die Leinverhandlungen mit Einrichtungen des Landes bisweilen langwieriger waren als mit westdeutschen Museen. Nun ja, die Ausstellungsmacher kommen selber aus dem Westen, der Beirat aber ist gemischt, hier finden wir auch Namen wie Friedrich Schorlemmer und Peter Sodann. Gerhard Seitmann von der Expo 2000 Sachsen-Anhalt

GmbH, der Veranstalterin, wünscht sich die Ausstellung als »Schrittmacher hin zu einer neuen Landesidentität«. Auferstanden aus Ruinen - wie das Kraftwerk Vockerode, das zwischen 1937 und 1940 errichtet, ab 1945 gesprengt und demontiert, seit 1953 als erstes Großkraftwerk der DDR wiederaufgebaut wurde, dem Abriß nach der Stillegung vor allem aus Kostengründen entging und nun dauerhafter Neunutzung harrt?

Können »die Skelette der untergehenden industriellen Welt« (Ministerpräsident Höppner) »in einer Zeit großer Umbrüche« zu Innovation, technischer und gesellschaftlicher Erneuerung inspirieren? Die Ausstellung umspannt die Vielfalt der Geschichte von tausend Jahren auf einem Territorium, das bislang insgesamt gerade mal 13 Jahre als Sachsen-Anhalt existiej-t hat (1947 bis 1952 und seit 1990); sie kann gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern will über zwölf Stationen der Geschichte zur individuellen Spurensuche anregen. Von Kaiser Otto I. bis zum »Bitterfelder Weg«, vom machtbewußten sächsischen Adel bis zum DDR-Programm zur Entwicklung künstlerisch tätiger Arbeiter.

Daß ausgerechnet in Anhalt den Nazis im April 1932 erstmalig die Regierungs-

übernahme auf Länderebene gelang, eröffnet das düsterste Kapitel »Arbeit, Rüstung, Massenmord. Die Region Sachsen-Anhalt im Nationalsozialismus«. Eine Büchse für 500 Gramm »Zyklon-B«, produziert von den »Dessauer Werken für Zucker- und Chemische Industrie AG«, versinnbildlicht das grauenvolle Ergebnis der faschistischen Machtausübung. Allein in Auschwitz wurden etwa eine Million Menschen mit »Zyklon B« ermordet. Und daß jetzt ausgerechnet in Sachsen-Anhalt die rechtsextremistische DVU bei den Lehrlingen stärkste und bei den Arbeitern zweitstärkste Partei geworden ist (Infratest dimap Wahltagsbefragung Landtagswahl 1998), gibt vor dem historischen Hintergrund sehr zu denken.

Das Theatrum, der Eröffnungsraum, stimmt mit historischem Rundumschlag auf die Ausstellung in den Kesseln ein. Hier finden wir das Straßenrad »Diamant« von Täve Schur aus dem Sportmuseum Leipzig, das Gelbe Trikot für den Gesamtsieger der Friedensfahrt 1955, eine Landmine aus der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, einen Zeitzer Kinderwagen von 1939 und eines der Lebensmittel-Ostpakete der Agrarmarketing-Gesellschaft Sachsen-Anhalt von 1996. Aber auch Utensilien der Protestaktion gegen Arbeitslosigkeit »5 nach 12« aus Privatbesitz in Dessau, eine Fabrikuhr, Flugblatt, Unterschriftenliste. Den Kesseln schließt sich ein Abschnitt »Grenzverletzungen« an, der sich mit symbolischen Höhepunkten gesellschaft-

licher Gärprozesse in der DDR wie »Schwerter zu Pflugscharen« befaßt, die dem Herbst 1989 vorausgingen.

Die Geschichte des Kraftwerks rundet die sehenswerte Ausstellung ab. Gebaut wurde es für die Energieversorgung der mitteldeutschen Industrieregion und Berlins, 1937 haben die Buna-Werke, für die NS-Wirtschaftspolitik von enormer Bedeutung, ihre Produktion erheblich erhöht. Schon im ersten Weltkrieg wurden in der Region kriegswichtige Industriebetriebe angesiedelt, weil sie hier außerhalb der Zone feindlicher Fliegerangriffe lagen. Auch im Kraftwerk Vockerode wurden im zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter eingesetzt, darunter viele Ukrainer und Weißrussen. Die heutige Architektur des Kraftwerks ähnelt dem Ursprungsbau, ist jedoch von der Industriearchitektur der 50er Jahre stark geprägt.

Die Ausstellung gibt nicht nur Rückblick, sondern auch Vorgeschmack auf das, was Besucher im Jahr 2000 in der Korrespondenzregion der Weltausstellung Expo, im Raum Bitterfeld-Wolfen-Dessau, über Sachsen-Anhalts Industrielandschaften und den Umbruch in Ostdeutschland erfahren können. Und was es bedeutet, »die Konfrontation zwischen Ökologie, Ökonomie und Kultur zugunsten konsensfähiger Lösungen zu überwinden« (Seitmann), kann man ja vielleicht in den nächsten Jahren in Sachsen-Anhalt besichtigen. Wenn alles gutgeht.

Die Ausstellung ist bis zum 13. September täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet

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