- Politik
- Deutsches Geld für die Oktoberrevolution 1917
Die Sisson-Dokumente eine wahre Fälschung
Nach der Niederschlagung der Juli-Demonstrationen im revolutionären ?*- * Petrograd 1917 erließ die Provisorische Regierung gegen Lenin und andere prominente Bolschewiki Haftbefehl: Sie seien Agenten des deutschen Kaisers. Lenin und seine Kampfgefährten mußten erneut in die Illegalität gehen; sie bereiteten nun den Aufstand vor. Seit dieser im Oktober 1917 siegreich erfolgte, behaupten Politiker, Journalisten und Historiker immer wieder, die bolschewistische Revolution wäre ohne »deutsches Geld« nicht erfolgreich gewesen. Lenins Reise im »plombierten Waggon« Anfang April 1917 quer durch Deutschland mit Wissen -der deutschen Reichsregierung, nährte etliche Mutmaßungen. Insofern kam es einer Sensation gleich, als in der zweiten Septemberhälfte 1918 US-Zeitungen angeblich echte Dokumente aus dem deutschen Generalstab abdruckten, die den Beleg für die Finanzierung der Oktoberrevolution durch die Regierung Kaiser Wilhelms II. erbringen sollten. Edgar Sisson, der Ende Oktober 1917 als »Special Representative« des US-Präsidenten Wilson und zugleich Vertreter des amerikanischen »Committee on Public Information« nach Petrograd gereist war, hatte diese im April 1918 mit nach Washington gebracht. Erst vier Monate später konnte er den Präsidenten bewegen, die Dokumente zu veröffentlichen. Schon damals erhoben Sachverständige Zweifel an deren Echtheit.
In der Tat hatte Sisson sein Material von einem Fälschertrio erworben. Dessen geistiges Oberhaupt war der Abenteurer und Reiseschriftsteller F. A. Ossendöwski; dazu gehörten der Mitherausgeber des Petrograder Blattes »Wetschernoe Vremja«, Jewgeni Semjonow-Kogan, sowie Oberst Samsonow aus der Telegraphen-Zentrale des Smolny. Daß die sogenannten Sisson-Dokumente Fälschungen waren, konnte indes erst Jahrzehnte später der US-amerikanische Diplomat und Historiker George F Kennan nachweisen (Journal of Modern History, XXVII, 1956).
Fakt bleibt, daß über Jahre Millionenbeträge aus Berlin zur Unterstützung der russischen Revolutionäre flössen. Die kaiserliche Regierung hoffte den Kriegsgegner Rußland aus der Front der Feindmächte herauszubrechen. Daß man in der Wilhelmstraße dabei auf jene Partei im Spektrum der revolutionären Kräfte Rußlands setzte, von denen man sich die größte Wirkung versprach, ist begreiflich. Wie die Transaktionen en detail verliefen, untersuchten nun Gerhard Schiesser und Jochen Trauptmann. Bei ihrer Arbeit an einer Fernsehdokumentation über die Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee sind sie auf die »Sisson-Dokumente« gestoßen. Kennan riet ihnen, der Sache weiter nachzugehen. Sie forschten in Bonn, Washington, Berlin, Kopenhagen,'Stockholm und nicht zuletzt im schwedischen Grenzort Haparanda, über den zum benachbarten finnischen Torneä und dann weiter durch Finnland nach Petersburg damals die Hauptroute für geheime Kuriere, Revolutionäre und Schmuggler aus dem Westen nach Rußland verlief.
Schiesser und Trauptmann bestätigen die zentrale Rolle, die der aus einer jüdischen Kleinbürgerfamilie in Belorußland stammende Alexander Helphand (Pseudonym Parvus) bei der Beschaffung und dem Transfer des deutschen Geldes zur revolutionären Unterminierung des Zarenreiches spielte. Der 1867 geborene und 1926 gestorbene Helphand, tätig in der russischen und deutschen Sozialdemokratie, war schon vor dem Ersten Weltkrieg in lukrative Geld- und Handelsgeschäfte, besonders mit der Deutschen Bank, eingestiegen. Nach Kriegsausbruch fand er mit seinen Plänen, die Revolutionierung Rußlands durch Bereitstellung entsprechender Geldmittel voranzubringen, im Auswärtigen Amt und bei anderen deutschen Regierungsstellen ein offenes Ohr. Man setzte zur Durchsetzung der imperialistischen Kriegsziele nicht nur auf den Sieg der Waffen, sondern auch, wie Denkschriften des Alldeutschen Verbandes, der Rüstungskonzerne Krupp oder Thyssen zeigen, auf die Sprengung des Vielvölkerstaates von innen heraus.
Helphand nahm im Sommer 1915 seinen Sitz in Kopenhagen. Das neutrale Dänemark erwies sich als günstige Operationsbasis für seine Handelsgeschäfte, zu denen vor allem der profitable Kauf und Verkauf von rüstungswichtigen Gütern zwischen den kriegführenden Staaten gehörten und mit denen er zugleich den Geldtransfer aus Berlin an die Revolutionäre m Rußland tarnte. Seine wichtigsten Partner waren Graf Brockdorff-Rantzau, damals deutscher Gesandter in Kopenhagen und später deutscher Botschafter in Moskau, Freiherr Lucius von Stoedten, deutscher Missionschef in Stockholm, sowie Freiherr von Romberg, deutscher Gesandter in Bern. Im Handelsunternehmen Helphands beschäft war auch Jakov Ganetzki-(Hanecki-)Fürstenberg, der nicht zufällig nach der Oktoberrevolution Kollegiumsmitglied des Volkskommissariats für Finanzen und Direktor der sowjetrussischen Staatsbank wurde. Beteiligt waren desweiteren der polnische Revolutionär Mieczeslaw Kozlowski, die Finnin Ewgenia Sumenson sowie Alexander Schljapnikow, später in der Führung der sowjetischen Gewerkschaften tätig* (die Autoren nennen ihn »Lenins rührigsten Kurier zwischen Stockholm und Petrograd«). Höchst interessant sind auch die Mitteilungen Schiessers und Trauptmanns über den Esten Alexander Kesküla, den die Reichsregierung in ihr nach Rußland ausgeworfenes Agentennetz einbaute und mit beträchtlichen Geldbeträgen ausstattete. Kesküla war es übrigens, der seinerzeit der Reichsregierung empfahl, ihr Geld nicht den Menschewiki, sondern den Bolschewiki zukommen zu lassen, da »die Fraktion Lenin den Weg zur radikalsten Opposition von allen national-russischen Revolutionsorganisationen am schnellsten durchlaufen« habe. Rudolf Nadolny, der spätere deutsche Botschafter in Moskau, zu Kriegsbeginn vom Auswärtige Amt in der Geheimdienstabteilung III b des Generalstabs stationiert, leitete Keskülas Empfehlung am 3. Mai 1915 an das AA weiter. Wie sehr man in der Folge in Berlin auf Lenin setzte, verdeutlicht eine Meldung des Stellvertretenden Generalstabs in Berlin vom 17. April 1917- »Lenins Eintritt in Rußland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.«
Helphand war nicht kleinlich. Von Brockdorff-Rantzau verlangte er 20 Millionen Rubel, »um die russische Revolution vollständig zu organisieren«. Wieviel Millionen schließlich flossen, wird wohl kaum mehr genau festzustellen sein. Es waren jedenfalls beachtliche Summen, die auch dann noch gezahlt wurden, als die kaiserliche Regierung bereits mit dem Raubfrieden von Brest-Litowsk dem neuen, nun Sowjet-Rußland den Stiefel auf die Brust gesetzt hatte. »Während der Herrschaft der Bolschewiki werden wir, trotz der großen Belastungsproben, die durch unsere eigenen politischen Forderungen (Estland, Livland, Transkaukasien, Krim usw.) der äußeren Politik der Bolschewiki bereitet werden, versuchen müssen, alles daran zu setzen, die Bolschewiki vor einer anderen Orientierung zu bewahren. Das kostet Geld, wahrscheinlich viel Geld.« So in einer Aktennotiz für Staatssekretär (Außenminister) von Kühlmann zur Vorbereitung eines Gespräches mit dem Staatssekretär des Reichsschatzamtes Graf Roedern am 5. Juni 1918. Letzterer bewilligte dann 40 Millionen Mark.
Für die deutsche Regierung sollte sich freilich die Unterstützung der Bolschewiki als Bumerang erweisen. Denn letztlich beschleunigte die Oktoberrevolution auch die Revolutionierung Deutschlands, die zum Zusammenbruch des Kaiserreiches führte. »Die deutsche Rußlandpolitik wird zum Hasardspiel, im wahrsten Sinne zum Russisch Roulette«, so die Autoren.
Ihr spannendes Buch erhellt einen bisher noch weitestgehend im Dunkeln gebliebenen geschichtlichen Vorgang. Inwieweit sich eventuell noch in russischen Archiven interessante Dokumente hierzu finden lassen, bleibt fraglich; Zeugen wurden spatftc unter Stalin ermordet, Beweismateriaiieri vernichtet. Umso bedauerlicher für Interessierte, daß die Autoren nur summarisch die von ihnen genutzten westlichen Archive auflisten, auf exakte Quellenangaben verzichteten.
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