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  • Kultur
  • PHILIP ROTH und JOHN UPDIKE schreiben sich in Richtung Nobelpreis

Ruhiger, resignativer, politischer

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

mour, »ein liberaler netter Vater«, den alle wegen seiner blonden Haare »den Schweden« nennen und der die Handschuhfabrik seines Familienunternehmens leitet, erscheint als Muster des erfolgreichen Amerikaners. Sportlich, hünenhaft und mit Dawn, der einstigen Miss New Jersey, verheiratet, ist er voller Liebe und Toleranz für Tochter Merry, nur um zu erleben, wie sich die stotternde Halbwüchsige alsbald »den Treuepflichten des braven kleinen Mädchens« entzieht. 1968 wird sie zur Ho-Chi-Minh-Anhängerin und revoltiert gegen den US-Vietnamkrieg.

Als Terroristin tötet sie im heimatlichen Old Rimrock erst einen ahnungslosen Einwohner und andernorts später drei weitere, ebenso unbescholtene Mitbürger Als fanatische Anhängerin einer indischen Sekte verwahrlost die untergetauchte Merry,

lehnt normale Nahrungsaufnahme ab und verhungert beinahe (»Es geht um die Ehrfurcht vor dem Leben. Ich darf keinem Lebewesen Schaden zufügen, weder Menschen noch Tieren, noch Pflanzen«). Die Mutter, die schon schwer damit fertig wird, nur als frühere Miss New Jersey betrachtet zu werden, stürzt in suizidale Depressionen, der Vater in ähnliche Verzweiflung. Während Merry sich von elterlicher Liebe und Konvention erdrückt fühlt, zerbricht die Fassade für den Muster-Ami Seymour

Die Familie steht der Terror- und Sektenlaufbahn der Tochter fassungs- und hilflos gegenüber »Vom Kometen des amerikanischen Chaos hatte sich ein Splitter gelöst und war nach Old Rimrock getrudelt, um ihn zu treffen«, fühlt Seymour und merkt, daß er spätestens da »die schlimmste Lektion gelernt

Philip Roth: Amerikanisches Idyll. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. C. Hanser 463 S., geb., 45 DM. John Updike: Gott und die Wilmots. Roman. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Reinbek. 735 S., geb., 45 DM.

(hatte), die das Leben lehren kann - daß es sinnlos ist«.

In dieser Bilanz ist der alternde Roth, der »Portnoys Beschwerden« hinter sich gelassen hat, im Geist nah bei Updike. Mit der Familiensaga »Gott und die Wilmots« hat der seinerseits die erotischen - manche meinen: pornographischen - Romane vergangener Jahre passiert und ähnliche Lebenslektionen erhalten wie Roth. Updike, als Erzähler hier mindestens so stark wie am Ende seiner »Rabbit«-Tetralogie, hat sich

vier Generationen der Familie Wilmot vorgenommen. So entstand eine Alltagsgeschichte, die den Zeitbogen von 1910 bis 1990 spannt.

Updikes Buch ist voluminöser In seiner Intensität, die aus einem allmählich entstehenden Teppich von ineinander greifenden Familienentwicklungen wächst, gewinnt der Roman zuguterletzt fast Buddenbrookssche Dimensionen - Updike at his best.

Alles beginnt mit Clarence, dem Priester und Familienvater Er spürt an einem Frühlingstag des Jahres 1910, daß ihn der Glaube an Gott verlassen hat. »Mir hat sich seit einiger Zeit die Gewißheit aufgedrängt, daß Gott ein Nichtfaktor ist - alle Gleichungen gehen ohne Ihn auf«, formuliert er es mathematisch. Was ihn zu etwas Besonderem macht, ist seine Bereitschaft, aus diesem Glaubensabfall Konsequen-

zen zu ziehen: Clarence gibt Amt und Würden auf, läutet so aber den sozialen Abstieg seiner Familie ein.

Das zweite der vier Großkapitel kreist um Teddy, einen von Clarences Söhnen, der intuitiv Vaters Glaubensverlust versteht, sich die gehbehinderte Emily gegen den Widerstand der vaterlos gewordenen Familie zur Gattin nimmt und Briefträger wird. Die dritte Generation verkörpert buchstäblich als Hauptdarstellerin Teddys und Emilys Tochter Essie. Als Model und Hollywood-Schauspielerin erreicht sie ihren Zenit in den 50er Jahren und hat von Großvater Clarence dessen Kinobegeisterung geerbt. »Sie hat die gleiche Art wie er, sich hinwegzuträumen in eine andere Welt«, erkennt Clarences Witwe, Essies Großmutter Ama.

Essies einziger Sohn Clark ist die zentrale Figur des Schlußkapitels. Doch unter den vielen Rollen, die Essie übernahm, »erwies sich die der Mutter als eine der wenigen, die mit ihr eindeutig fehlbesetzt waren. Der Sohn entwickelt sich vom einnehmenden, schüchternen, rotbackigen Kleinkind zu einem

ziemlich mürrischen, farblosen Versager«. Er wächst in Hollywood heran und landet schließlich - Erinnerungen an Roths Merry in der indischen Sekte - in den Händen des falschen Propheten Jesse Smith.

Dieser ist Gott-gleicher Vorsteher einer angeblich utopischen Kommune. Sie nennt sich »Tempel des Wahren und Wirkenden Glaubens« und besiegelt Clarks Ende unter äußeren Umständen, die an das Drama um die Koresh-Sekte in Waco (Texas) erinnern.

Es heißt, die Geschichte der Wilmots lehne sich in vielem an die Geschichte der Familie Updike an (sein Großvater mußte wie Clarence den Priesterberuf aufgeben). Doch das Thema von Aufstieg, Niedergang und Zerfall weist, wie bei Roth, weit über Familiengrenzen hinaus. Es berührt die Gesellschaft, und man ahnt, daß mit ihr auch nicht nur die amerikanische gemeint sein kann.

Von Roth und Updike liegen zwei schöne Bücher vor, die den Nobelpreis für die beiden Erzähler eigentlich nur noch zu einer Frage der Zeit machen dürften.

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