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Streitbarer Publizist

  • Siegfried Schwarz
  • Lesedauer: 3 Min.

Broadcasting Station in Europe«. Nachdem er 1945 einige Zeit amerikanischer Kontrolloffizier beim gerade gegründeten Radio Frankfurt gewesen war, kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück. Er war von der Gleichgültigkeit und dem Selbstmitleid seiner ehemaligen Landsleute in Westdeutschland so sehr enttäuscht, daß sein Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen dauerhaft gestört blieb. Er selbst schrieb, daß er angesichts des im Zweiten Weltkrieg Geschehenen »nie mehr ganz heimgekehrt« sei. Erst 1958 nahm Golo Mann eine Tätigkeit als Professor für politische Wissenschaften in Stuttgart auf, um sie bereits 1964 wieder aufzugeben. Seitdem lebte er in

Jeroen Koch: Golo Mann und die deutsche Geschichte. Eine intellektuelle Biographie. Verlag F. Schöningh, Pader-

born AVien/Zürich 1998. 394 S., br., 68 DM.

Kilchberg am Zürichsee. In allen seinen publizistischen Arbeiten betonte er die ethischen Aspekte von politischen Entscheidungen und intellektuellen Haltungen. Von seinen zahlreichen Werken hebt Koch die »Deutsche Geschichte des 19 und 20. Jahrhunderts«, die Erzählung »Wallenstein« und die faszinierende Studie »Friedrich von Gentz« hervor

Koch widmet große Aufmerksamkeit den stark ethisch motivierten Stellung-

nahmen Golo Manns zum Umgang der Westdeutschen mit ihrer Vergangenheit und zum wiederauflebenden Nationalismus in der Bundesrepublik, zur Jugendrevolte in den 60er Jahren und zum Terrorismus der extremen Linken. Obwohl Golo Mann den Kommunismus wie auch das Gesellschaftssystem der DDR strikt ablehnte, plädierte er dennoch nachdrücklich für ein realistisches Verhältnis zum zweiten deutschen Staat und dessen Anerkennung. Bei Golo Manns Plädoyer für die Anerkennung der polnischen Westgrenze überwogen moralische Überlegungen: Man solle »aus dem verhexten Zauberkreis der Kriege um Grenzen« ausbrechen. Er trat dafür ein, Politik und

dieser Biographie gearbeitet, die eine fast erschöpfende Geschichte Deutschlands im vorigen Jahrhundert geworden ist. Er ist, wie gesagt, Amerikaner Praktisch gleichzeitig mit ihm schrieb der DDR-Bürger und Marxist Ernst Engelberg ebenfalls eine Bismarck-Biographie, und auch er ließ dem Mann, der ein Jahrhundert das Feindbild in der Reinkultur der Sozialisten geblieben ist, Gerechtigkeit widerfahren. Es ist spannend, die Werke dieser beiden Autoren miteinander zu vergleichen, die aus angeblich doch so verschiedenen Welten stammend und von so verschiedenen ideologischen Prämissen ausgehend, zu sich einander kaum widersprechenden Urteilen über ihr Forschungsobjekt gelangen, sich dabei jedoch ideal ergänzen. Jeder deutsche Geschichtslehrer, jeder Offizier, jeder Minister, jeder Bundestagsabgeordnete und jeder politische Redakteur sollte sie gelesen haben. Denn die Parallelen der Zeit nach der Reichsgründung zu darnach dem Ende der Spaltung.sind unübersehbar

öffentliche Meinung in Westdeutschland von dem »Phantom des Deutschen Reiches« zu erlösen. Es sei eine Illusion, daß das Reich Bismarcks wiederhergestellt werden könnte, auch nicht innerhalb der Grenzen von 1937

Für Golo Mann hatte die Wiederherstellung der territorialen Einheit keine Priorität. In den 60er Jahren verstärkte er seine Attacken gegen die Adenauersche Ostpolitik und zog sich dadurch wütende Reaktionen und Verleumdungen seitens der Vertriebenenverbände und der nationalkonservativen Presse zu. Auch über die deutsche Vereinigung von 1990 war Golo Mann nicht glücklich; sie verlief für ihn viel zu schnell, »Hals über Kopf«.

Kochs verdienstvolle Biographie ist eine Fundgrube für alle, die Einblicke in die eigenwillige Gedankenwelt des 1994 verstorbenen streitbaren Publizisten gewinnen möchten.

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