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eh Ein Jahr ABM ist viel zu kurz

Arbeitsamt will mit Ausstellung Denkanstoß geben Von Marcel Braumann

  • Lesedauer: 4 Min.

Politiker mögen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) als Dämpfer für die Kurve der Arbeitslosenquote, Kommunen freuen sich über sonst unbezahlbare Tätigkeiten - für die Betroffenen ist es eine Rettung mit Ungewisser Zukunft.

Mein Tagesablauf hat sich wieder normalisiert, seitdem ich nicht mehr nur herumsitze. Ich wurde zufriedener. Das hat sich auch positiv auf meine Familie ausgewirkt«, gab die 39jährige Diplom-Betriebswirtschaftlerin Sylke M. zu Protokoll, die nach zweijähriger Arbeitslosigkeit in den Genuß einer ABM gekommen ist. Mit der Ausstellung »Zwischenstation!?«, die am Dienstag in den Räumen des Stellen-Informationsservice des Arbeitsamtes Chemnitz eröffnet wurde, sollen die in den Mittelpunkt gerückt werden, die dank ABM Beschäftigte auf Zeit sind.

Natürlich nicht ohne den Hintergedanken, daß mit der Exposition Überlegungen zur Notwendigkeit und Wirksamkeit von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angeregt werden, so Arbeitsamtsdirektor Wolfgang Handschuch. Das Gezeigte ist selber im Rahmen einer solchen Maßnahme entstanden, Mitarbeiter einer ABM-Gruppe des Projektes »pro Chemnitz« der »Phönix« GmbH haben Leute befragt, die über ABM beschäftigt sind oder waren. Dem Begleitheft ist ein Satz aus der Erklärung der Menschen-

rechte der Vereinten Nationen von 1948 vorangestellt worden: »Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit.«

Daß dieses Menschenrecht in der BRD nur ungenügend verwirklicht wird, ist angesichts der Statistik unstrittig. Wie das Leben konkret so spielt, erfuhr der Zerspanungsfacharbeiter Steffen K., der nach der Wende auf Kurzarbeit Null gesetzt wurde, einen dreimonatigen Computerlehrgang machte und dann entlassen wurde. Nach einjähriger Arbeitslosigkeit schulte er zum Maurer um, nach erneuter längerer Arbeitslosigkeit vermittelte ihn das Arbeitsamt an einen kleinen Baubetrieb, der Leute immer nur für einen Monat einstellt. Dieser Monat brachte einschließlich 30 Überstunden insgesamt 980 Mark Nettolohn. Steffen K. stand kurz davor, Sozialhilfe beantragen zu müssen, da kam die ABM in der Landschaftsgestaltung wie eine Erlösung - regelmäßiger Lohn und gutes Betriebsklima.

Nun ist der 57jährige schon wieder ein Jahr arbeitslos. Daß mit dem Anfang jeder ABM ihr Ende bereits absehbar ist, scheint der größte Nachteil. Einige starten durch Richtung Neuland, so die Näherinnen Kristine S. und Hildegard D. (51 und 59) sowie die Gütekontrolleurin Margitta H. (55), die nach dem Zusammenbruch der Textilbranche an eine ABM als Altenpflegerinnen in einem Pflegeheim gerieten. Dort wurden sie schließlich fest angestellt und können glücklich

Bilanz ziehen: Wiedereinstieg ins Berufsleben geschafft.

Eine solche Perspektive hatte der heute 58jährige Dieter L. nicht, der nach 25jähriger Tätigkeit in einem Chemnitzer Chemiebetrieb seinen Job verlor. Denn die ABM bestand im Abriß seines ehemaligen Betriebes. Der 43jährigen Petra B. bleibt die Hoffnung, daß die Erfahrungen, die sie in der soziokulturellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gesammelt hat, bei der Suche nach einer festen Beschäftigung von Nutzen sein werden. Der 56jährige Diplomwirtschaftler Joachim V hofft vor allem auf die Verlängerung seiner ABM, die er als »Rettungsanker« in puncto soziale Sicherheit beschreibt.

»Ich war froh, wieder in einem Arbeitskollektiv tätig sein zu können«, sagte die 38jährige Ökonomin Constanze R. stellvertretend für viele ABM-Beschäftigte. Das Arbeitskollektiv steht für Umgang mit anderen Menschen, inneres Ausgefülltsein und materielle Sicherheit, die drei wichtigsten Argumente für die Befragten, aus der Arbeitslosigkeit raus zu wollen. Auffallend ist die enorme Anpassungsbereitschaft, etwa der jungen Schauwerbegestalterin, die nun klaglos körperlich anstrengende Gartenarbeit macht, oder der Handelskauffrau, die Spielplätze gebauij hat. Über die mangelnde Wertschätzung bürgerlicher Freiheitsrechte in Ostdeutschland braucht man sich aber auch nicht mehr zu wundern, wenn man Lebensläufe wie den des 19jährigen Jan M. studiert.

Erfolgreicher Realschulabschluß, Lehre als Werkzeugmechaniker - im Dezember 1996 ging sein Ausbildungsbetrieb in Konkurs, ihm wurde gekündigt: »So hatte ich mir meinen Start nicht vorgestellt.« Eine Fortsetzung der Lehre in einem anderen Betrieb klappte auch nicht, statt dessen kam ABM. Nun sieht er nur noch zwei Alternativen: Verlängerung der ABM oder die Bundeswehr, von der er eingezogen zu werden hofft: »Dort werde ich meinen Weg gehen.«

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