Es gibt sie: Jugendliche, die laute, harte Musik hören, aber keinerlei Drogen nehmen und gar Sex als Konsum ablehnen
Jens Thomas
Lesedauer: 6 Min.
Der dunkelblonde Mittzwanziger mit den zutätowierten Oberarmen hat sich mittlerweile daran gewöhnt. Er kann es nicht ändern: Wenn er abends in die Kneipen gehe, nervt ihn schon der Zigarettenqualm. Einsperren aber will er sich nicht. »Dem bin ich halt ausgesetzt«, sagt Nico Webers aus Berlin.
Webers ist konsequenter Nichtraucher. Aber nicht nur das: Er meidet auch Alkohol und andere Drogen, nimmt keine tierischen Produkte zu sich und lehnt gar Sex als Konsum ab. Ja, hat er was mit dem Papst zu tun, ist er ein Zögling der AOK, ein Gesundheitsfanatiker? »Ich lebe einfach nur bewusst und drogenfrei«, macht der junge Mann deutlich. Und Sex sei ja im Grunde eine »feine Sache«, aber abscheulich, wenn man ihn nur praktiziere, um sich selbst aufzuwerten.
Nico Webers gehört einer Spezies an, von der es weltweit eine Menge, in Berlin jedoch nur wenige gibt. Er zählt sich zur Gruppe der »Straight Edger«, einer asketischen, drogenfreien Jugendbewegung, die zu Beginn der 80er Jahre in Washington DC aus dem Genre der Punks entstanden ist.
Es war die Punkband Minor Threat aus Washington DC, die 1981 ihren Song »Straight Edge« (»Gerade Linie«) schrieb. Ihr Sänger Ian MacKaye, heute bei der Gruppe Fugazi, lebte strikt nach der selbst kreierten Maxime »I don't smoke, I don't drink, I don't fuck«. Er hatte sich damit vom Profilierungszwang amerikanischer Pubertierender abgegrenzt, die sich über nächtliche Alkoholexzesse definierten, Sex im Vollrausch als Selbstbestätigung erlebten und, so seine Meinung, den Respekt vor sich und dem Körper anderer verloren hätten. Dazu malte er sich mit dem Filzmarker ein dickes X auf den Handrücken. Das Symbol übernahm er aus den US-Diskotheken, in denen sich Jugendliche unter 21 Jahren auf so genannten »All-Ages-Konzerten« dieses X auf die Hand auftragen mussten, damit man sie erkannte, da an sie noch kein Alkohol ausgeschenkt werden durfte.
Ian MacKaye hatte damals viele Jugendliche fasziniert und in den Staaten eine Jugendbewegung beinahe religiösen Charakters ausgelöst. Es war jene Zeit, in der der US-Staat seine Bürger im Zuge der damaligen Reformen des Präsidenten Ronald Reagan immer mehr in die »Selbstverantwortlichkeit« entließ. Religiosität wurde in dieser Zeit nicht unwichtiger, im Gegenteil. Religion hatte nun aber nicht mehr wie früher die Funktion eines Korsetts fürs Kollektiv, sondern federte Vereinzelung ab und wurde zugleich als »Ich-Leistung« gelebt. Das Religiöse rankte ins Spirituelle und wurde als Baustein zur Selbstthematisierung in einer von Spaß dominierten und entkirchlichten Gesellschaft als modernisierte Variante gelebt.
In diese Zeit passte auch die Straight-Edge-Bewegung. Sie ließ Platz für Hedonismus, flickte aber zugleich die Fetzen einer auf Individualisierung getrimmten Punkbewegung wieder zusammen, die sich in selbstdestruktiver Weise unter dem Schlachtruf »No Future« szenerituellen Drogenexzessen hingab. Straight Edge sammelte schließlich jene Individuen unter der Etikette »Drogenfreiheit, Abstinenz und Spaß dabei« auf. Ihre Anhänger verabschiedeten sich vom Lotterlook des Punks, trugen kahl rasierte Schädel, schicke Baseballkappen und martialische Armeehosen als Zeugnis ihres Kampfesmutes und Durchhaltevermögens. Ihre Musik wurde jetzt nicht mehr Punk, sondern Hardcore genannt, eine musikalisch härtere Gangart des Punkrocks mit sägenden Gitarren bis hin zu pompös produziertem Sound. Später, in den 90er Jahren, konvertierten viele Protagonisten der ersten Straight Edge-Welle zu Hare Krishnas, andere gaben sich (wieder) dem Drogenkonsum hin, wiederum andere wurden zu »Hardlinern«. Zu Straight Edgern, die mit besonders restriktiven Maßnahmen gegen Nicht-Straight-Edger vorgingen, so wie die Gang Courage Crew aus den USA, die qualmenden und Bier trinkenden Altersgenossen mit Gewalt begegneten. Auch ist die Szene mittlerweile, wie so viele andere Jugendkulturen, am rechten Rand angekommen. Das Straight Edge-Saubermannsimage mit klaren, einheitlichen bis hin zu asketischen wie auch antikapitalistischen Wertevorstellungen sprach nicht nur aktive Tierrechtler und Antifaschisten an, auch Abtreibungsgegner und eine homophobe Klientel. Straight Edge als Leitlinie ließ sich darum nicht nur ins Konservative, sondern auch nach Rechtsaußen drehen.
Doch rechtsaußen sind nur wenige, und Nico Webers will damit nichts zu tun haben. »Das hat mit dem Grundgedanken von Straight Edge nichts gemeinsam«, betont er. Straight Edger wollten schließlich Selbstbestimmung und Selbstkontrolle verschmelzen lassen, sich damit auch von der Musikindustrie abkoppeln, ihre Idee wurde jedoch im Laufe der Zeit selbst marktstrategisch ausgehöhlt.
Nico Webers lebt nun seit zehn Jahren im Rausch der Abstinenz. Zuvor aber habe er gesoffen wie »ein Loch«, sich auch ab und an mal geschlagen. »Wie bescheuert«, meint er heute. Er scheint Abstand zu sich und seiner Szene gewonnen zu haben. Zu einer Szene, in der die meisten das Gängige tun, rauchen, trinken, das aber meist nicht hinterfragen. Die Leute würden ihn oft nicht verstehen, wenn er klarstelle, dass er auch ohne berauschende Mittel zufrieden sein kann. In der Regel müsse er sich aus einer Minderheitenposition heraus verteidigen.
Auch in seiner Band, der progressiven Metal-Core-Combo The Ocean Collektive, ist er der Einzige, der die Finger vom berauschenden Zeugs lässt. Dennoch wolle er sein Markenzeichen, das X, keinem mehr aufzwängen. »So wie ich möchte, dass mich andere tolerieren, will ich auch andere akzeptieren«. Das X hat er sich vor Jahren in den Nacken tätowieren lassen, ein Symbol auf Lebenszeit, doch sein braunes, mittlerweile langes Haar bedeckt es nun.
Viele Straight Edger wollen ihren Lebensweg heute nicht mehr an die große Glocke hängen. Das dicke X auf der Hand trägt man darum kaum mehr, und viele nehmen auch den dritten Pfeiler, »don't fuck«, nicht mehr allzu ernst. Vielmehr hat man den Respekt vor der Tierwelt, die Ablehnung des industriellen Massentötens hinzugenommen und ernährt sich deshalb vegan, das heißt ohne jegliche Tierprodukte. Doch auch das können viele nicht verstehen. Oft werden Vorwürfe laut, Straight Edger seien »Öko-Faschisten«, dogmatische Tierrechtler, die mit restriktiven Maßnahmen gegen den Menschen als Nichtvegetarier und Allesfresser vorgehen. Diese Militanz gibt es.
Doch so will Nico Webers nicht auftreten. Auch andere Berliner Straight Edger wie Pascal Quandt, Schlagzeuger der Band Short Age, einer Combo, die als letzte existierende Straight-Edge-Band in Berlin galt, meinen, dass das jeder selbst entscheiden müsse. Er lebt im Gegensatz zu seinen anderen Bandmitgliedern noch immer »straight«, trägt als Zeichen dafür einen Silberring mit drei eingravierten Xen um den Finger und hat eine Gürtelschnalle mit dem Schriftzug »Str8 Edge« um die locker hängende Hose gebunden. »Straight Edge ist eine Art Lebensphilosophie«, meint er. Sie rahme seinen Alltag, man sei dadurch zu »jeder Tageszeit hundertprozentig einsatzfähig«. Doch einen Alleingültigkeitsanspruch sollte es nicht geben.
Webers und Quandt sind ein Spiegelbild der heutigen Straight-Edge-Szene. Denn in ihrer einst homogenen Form wie in den 80er Jahren existiert sie kaum mehr. Gar nicht so verwunderlich, zumindest in punkto Rauchen, hat sich die Gesellschaft selbst dem Aufruf »don't smoke« geöffnet. Doch die Straight Edge-Kollektive in ihrer ursprünglichen Variante gibt es noch immer. Hiesige Hochburgen sind etwa Cottbus, Senftenberg oder Finsterwalde, mit Bands, die sich als rein »straight edge« definieren, wie Bild on Trust, The Truth oder Something Inside. Auch in den Niederlanden finden sich verstärkt geschlossene Gruppierungen. In Berlin aber sind es eher verstreute Individuen, die ihr Leben ohne Drogenkonsum gestalten, so wie Nico Webers. Oder auch xAndréx, wie er sich nennt, 26 Jahre alt. Er lebt seit drei Jahren drogenfrei. »Ich hatte einfach den Drang, rauschfrei, mit offenen, ungetrübten Augen durchs Leben zu gehen«, sagt er. Die Realität sei zwar nicht immer schön, aber es sei noch immer besser, ihr nüchtern entgegenzutreten. »Wie soll man denn sonst was verändern?« fragt er.
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