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  • Politik
  • TV-Kritik. »Der Fall Liebknecht-Luxemburg« (3sat)

B efangehö Justiz

  • Peter Hoff
  • Lesedauer: 4 Min.

Zeitgeschichte vor Gericht« hieß die Reihe von Dokumentarfernsehspielen, die der Süddeutsche Rundfunk Ende der 60er Jahre produzierte und sendete. Der Stuttgarter Sender hatte als eine der ersten bundesdeutschen Fernsehanstalten die politischen Möglichkeiten des noch jungen Mediums Fernsehen entdeckt und zu nutzen begonnen. Die Reportage-Reihe »Zeichen der Zeit«, zeitkritische Dokumentarfilme über politisch brisante Themen, brillant montiert und kommentiert, wirkte beispielhaft für das Fernsehen und den Dokfilm in der Bundesrepublik. Die »Stuttgarter Schule« des Dokumentarfilms wurde zu einem Begriff für politisch engagierten investigativen Fernsehjournalismus.

Auch die Dokumentarspielreihe »Zeitgeschichte vor Gericht« - der Arbeitstitel hieß »Befangene Justiz« -.kannte keine politische Rücksichtnahme. Justizskandale der vergangenen Jahrzehnte wurden in der »dokumentarischen« Nachgestaltung im Fernsehspiel neu aufgerollt und die Erbkrankheit westdeutscher Justiz -Blindheit auf dem rechten Auge - an historischen Beispielen vorgeführt. Das war damals nicht ungefährlich, die deutsche Justiz hatte sich allen Versuchen, sie für ihre Mitschuld an den Verbrechen der

Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen, erfolgreich entziehen können. So stießen die sechs Spiele, die in dieser Reihe zwischen Januar und Juni 1969 gesendet wurden, in ein rechtspolitisches Wespennest.

Vor allem das zweiteilige Spie}, das die Reihe am 14./15.1.1969 eröffnete, war von besonderer Brisanz. Der damals 42jährige Autor Dieter Ertel, der die Fakten selbst vor der Kamera präsentierte, hatte seine szenische Nachgestaltung der inzwischen 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse »Darstellung eines Offizierskomplotts« genannt. Damit griff er jene Kaste an, die noch bis heute auf die Aufrechterhaltung ihres Ehrenkodex' um den Preis jeder Geschichtsverfälschung bedacht ist. Erinnert sei an das endlose Palaver über die Ausstellung zu Verbrechen der Nazi-Wehrmacht.

Es ging in Ertels Dokumentarspiel um den »Fall Liebknecht-Luxemburg«. Die Mörder der beiden Kommunisten waren damals noch unter uns - und wehrten sich nach Kräften und mit Hilfe einer immer noch botmäßigen und gefälligen Justiz gegen die Erinnerung an ihr ein halbes Jahrhundert zurückliegendes Verbrechen. Ertel und sein Rechercheur, der bedeutende jüdische Faschismusforscher Joseph Wulf, der u. a. mit seiner fünfbändigen Dokumentensammlung »Kultur im Dritten Reich« als erster die Kulturzerstörung als nazistische Politik durch-

schaubar gemacht hatte, recherchierten in den bisher kaum genutzten Archiven, befragten die Tatbeteiligten wie den berüchtigten^Hirtiptroann Pabstmad rekem-,, struierten auf rar Grundlage der rietfer»' ? schlos?enen 3 Öo\unfente in ihreirY'SKiffiiS'i rium den politischen Doppelmord vom Januar 1919 und analysierten die sorgsam von den Mördern verschleierten Vorgänge als politisch detailliert geplantes Komplott. Ertel entdeckte den wirklichen Mörder von Rosa Luxemburg, den Leutnant Souchon, der daraufhin eine Unterlassungsklage einleitete, welcher von der Justiz auch 1969 noch stattgegeben wurde. Sie verbot dem Sender auf Grund der manipulierten Untersuchungsakten von 1919, ihn als Mörder zu benennen. Auch Legenden fielen bei genauem Hinschauen, wie jene des »Widerstandskämpfers« gegen Hitler, des Nazi-Geheimdienstchefs Canaris, der hier als einer der schrecklichen Militärjuristen erscheint, die Recht im Sinne von Rechts beugten.

»Der Fall Liebknecht-Luxemburg« konnte sich nicht auf die Nachgestaltung der Gerichtsverhandlung beschränken. Die Offiziere, die in jenem Militärgericht Anklage, Verteidigung und Rechtsprechung vertraten, saßen ja nicht nur über ihresgleichen zu Gericht; sie waren selbst als Befehlsgeber, Mitwisser, als treibende Kräfte in jenes ungeheuerliche Verbrechen verwickelt. So entwickelte Ertel sein zweiteiliges Szenarium zu diesem Fernsehspiel: im ersten Teil - er war am vergangenen Sonntag im Programm von 3sat zu sehen - zeigt er die Vorbereitung des Mordes, seine Ausführung und die Intrigen, die eingeleitet werden, um die Mörder unerkannt bleiben zu lassen. Im zwei-

ten Teil (er wird am 24. Januar, wieder um 11 Uhr vormittags, auf 3sat gesendet) die eigentliche Gerichtsverhandlung. „,? v Nicht allein die TartsrohBTfdaß^fiBrnse-;*hen damals, vdi* 30 Jahren, sich noch ?'^elBSSf-tls Orga# ? dfef«pohtischen Öffentlichkeit verstand und tatsächlich politisches Bewußtsein zu prägen versuchte, verblüfft heute, angesichts der tagtäglichen Verblödung durch quotenträchtige Soaps und Shows; wir erstaunen auch gegenüber der künstlerischen Haltung der damaligen Fernsehmacher. Theo Mezger, der Regisseur, läßt die Vorgänge zwischen gemalten Dekorationen (Szenenbild: Karl Wägele) spielen, die wie grob vergrößerte, hart kopierte Fotos wirken. Die Schauspieler - Martin Benrath als arroganter, zynischer Hauptmann Pabs,t, Gert Westfahl als intriganter Kriegsgerichtsrat Jörns, Harry Buckwitz als seniler General Hofmann, um nur einige zu nennen - geben den Personen des Nach-Spiels in klaren Haltungen Gestalt. Sie schaffen den Abstand zu den Figuren und Vorgängen, den das Dokumentarspiel fordert. Mezger will nicht die Illusion der Wirklichkeit geben, will uns nicht zur Aufgabe der Distanz zwingen, die wir brauchen, um das Geschehen zu durchschauen. Aber wir sollen auch selbst Position beziehen können. Das Spiel ist in jedem Moment spannend, die Fakten fesseln ebenso wie die Art ihrer Darbietung durch bedeutende Schauspieler.

Und das Spiel ist eine Erinnerung daran, daß Fernsehen mehr kann als uns die Zeit zu stehlen. Den Freunden von wirklich gutem Fernsehen sei der zweite Teil dringend empfohlen!

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