Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Das Politbüro - Eine Studie über Stalins Sowjetunion

Die Mechanismen der Macht und die Orgie des Scheckens

  • Günter Rosenfeld
  • Lesedauer: 7 Min.

Als das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei am 10.(24.) Oktober 1917 auf Vorschlag von Feliks Dzierzynski den Beschluß faßte, zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes aus sieben Mitgliedern des ZK ein Politisches Büro zu bilden, ahnte von den zwölf Anwesenden wohl niemand, daß sich dieses »Büro« einmal so sehr verselbständigen sollte, daß es zur Machtausübung allenfalls nur noch der formellen Zustimmung des Zentralkomitees der Partei bedurfte. Mehr noch: Auch das Politbüro sank schon nach anderthalb Jahrzehnten zu einem Gremium herab, in dem nur noch einer entschied - und zwar über Tod und Leben von Millionen Menschen: Josef Stalin, der »Woshd« (»Führer«).

Oleg W Chlewnjuk, Mitarbeiter des Staatsarchivs der Russischen Föderation in Moskau, hat es nun unternommen, den Mechanismus der Machtausübung des Stalinschen Politbüros von Anfang bis Ende der 30er Jahre unter Auswertung von Sitzungsprotokollen des Politbüros, des Briefwechsels der Politbüromitglieder, der zugänglichen Nachlässe sowie anderer Quellen darzustellen. Chlewnjuk, Jahrgang 1959, hat sich bereits durch seine Bücher »Das Jahr 1937« (1992), »Stalin und Ordshonikidse« (1993) sowie als Mitherausgeber des Dokumentenbandes »Das Stalinsche Politbüro in den 30er Jahren« (1995) als vorzüglicher Kenner der Thematik ausgewiesen. Insofern war die Hamburger Edition gut beraten, dieses schon 1996 in Moskau erschienene, sich wohltuend von üblicher Sensationshascherei abhebende Buch nunmehr auch in deutscher Übersetzung herauszugeben.

Der Verfasser folgt in seiner chronologisch angelegten Darstellung der üblichen Periodisierung: die Jahre 1929 bis 1930 mit der Zerschlagung der »Rechten« und der StärkungTder Macht,“Stalins; die Krisenjahre 1931 bis 1933 mit dem Wechsel von Gewalt und »Reformen«; das »Tauwetter« des Jahres 1934; die Jahre 1935/36, in denen der Terror sich hauptsächlich gegen Parteimitglieder richtete, während gleichzeitig Maßnahmen zur »Befriedung« der Gesellschaft ergriffen wurden; die Jahre der »großen Säuberung« 1937/38, in denen der Terror seinen Kulminationspunkt erreichte, und schließlich die beiden Jahre vor dem Krieg (1939/40), in denen sich mit der endgültigen Verschmelzung von Parteiund Staatsführung die Alleinherrschaft Stalins durchsetzte.

Seit der ehemalige NKWD-General Alexander Orlow, der schon 1938 in die USA flüchtete, nach Stalins Tod seine »Kreml-Geheimnisse« veröffentlichte, stützten sich viele Historiker auf dessen

These, daß sich im Stalinschen Politbüro der 30er Jahre zwei Fraktionen gegenübergestanden hätten: die Vertreter eines »harten« und diejenigen eines »gemä-ßigten« Kurses. Die Ausführungen Chrustschows auf dem XX. Parteitag 1956 schienen dies zu bestätigen. Doch ist zu bedenken, daß sich Chrustschow einer solchen Aussage bedienen mochte, um sie gegen seine politischen Gegner ins Feld zu führen.

Chlewnjuk widerspricht jedenfalls Orlows These: »Insgesamt belegen die bisher bekannt gewordenen Archivalien nicht, daß im Politbüro der 30er Jahre Auseinandersetzungen zwischen >Gemä-ßigten< und >Radikalen< stattgefunden haben. Ein und dasselbe Mitglied des Politbüros hat zu verschiedenen Zeiten (oder

in verschiedenen Situationen während ein und derselben Zeit) unterschiedliche Positionen bezogen - sowohl >gemäßigte< als auch >radikale<. Das hing von vielen Umständen ab, vor allem jedoch davon, welcher Position Stalin zuneigte ...«

In dem Maße, wie sich die Macht in der Hand Stalins konzentrierte, verringerten sich im Verlauf der 30er Jahre Rechte und Möglichkeiten der PB-Mitglieder. Konflikte, die unter ihnen ausbrachen, hatten nach der Zerschlagung der »rechten« Opposition mit Bucharin, Rykow und Tomski ihren politischen Hintergrund verloren. Sie resultierten viel-

mehr aus ressortbedingtem Kompetenzdenken, wobei die PB-Mitglieder, die zugleich mächtige Sowjetbehörden leiteten, deren Belange ins Feld führten. Stalin nutzte dies, um sie gegeneinander auszuspielen und dann die Rolle des Schiedsrichters einzunehmen.

Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Alleinherrschaft Stalins waren Beschlüsse über die Umbesetzung von Partei- und Staatsfunktionen sowie über die Dezentralisation der Funktionen im ZK vom Februar und März 1935. Reguläre Sitzungen des Politbüros wurden immer seltener, wobei die Mehrzahl der Entscheidungen im Umlaufverfahren herbeigeführt wurden. Mehr und mehr traf Stalin jetzt die Entscheidungen allein unter Hinzuziehung einzelner PB-Mitglie-

der. Wie Chlewnjuk vermerkt, bildete sich bis Anfang 1939 eine »Fünfergruppe« (Stalin, Molotow, Woroschilow, Kaganowitsch und Mikojan) heraus, die faktisch das Politbüro repräsentierte.

Bemerkenswert sind in dem vorliegenden Buch die Aussagen über die Beziehungen Stalins zu Kirow und Ordshonikidse. Danach ist die vielfach verbreitete Auffassung, daß Kirow, Erster Parteisekretär von Leningrad und seit 1930 Mitglied des Politbüros, in der Partei einen antistalinschen Kurs verfolgte, Legende. Vielmehr war auch er ein Gefolgsmann Stalins und sorgte in Lenin-

grad für die Durchsetzung terroristischer Maßnahmen. Insofern hatte Stalin keinen Grund, Kirow zu ermorden. Was auch immer der Hintergrund des tödlichen Schusses am 1. Dezember 1934 auf Kirow war (Chlewnjuk hält sich hier mit einem Urteil zurück), Stalin nutzte die Tat jedenfalls, um eine neue »Säuberungs«welle in der Partei einzuleiten und ehemalige Oppositionelle zu vernichten.

Anders verhielt es sich mit Ordshonikidse, ebenfalls seit 1930 Mitglied des Politbüros und Volkskommissar für Schwerindustrie, der Stalin noch aus der revolutionären Tätigkeit in Transkaukasien gut kannte. Obzwar nicht grundsätzlich gegen Stalin eingestellt, suchte er jedoch diesen wegen der höchst negativen Auswirkungen der Repressalien auf das Wirtschaftsleben, nicht zuletzt auch nach Verhaftung seines Bruders, vom Repressionskurs abzubringen. Da ihm dies nicht gelang, beging er am 18. Februar 1937 »Selbstmord aus Protest«, so Chlewnjuk entgegen der Version des von Stalin inszenierten Suizids.

Neue Erkenntnisse gewinnen wir ebenso über Ursachen, Durchführung und Folgen des »Großen Terrors« 1937/38. Chlewnjuk. »Die Öffnung der

Die ZK-Mitgheder auf

dem XVII. Parteitag der KPdSU in Moskau, 1934. v.l.n.r stehend: Jenukidse, Woroschilow, Kaganowitsch und Kuibyschew; sitzend: Ordshonikidse, Stalin, Molotow und Kirow.

Foto aus: David King, »Stalins Retuschen«

Archive hat uns eine ausreichende Zahl von Beweismitteln dafür geliefert, daß der >große Terror< ein Komplex wohlüberlegter, zielgerichteter und sorgfältig geplanter repressiver Operationen gewesen ist, die von August 1937 bis November 1938 durchgeführt wurden.«

Schon das Februar / März-Plenum des ZK der KPdSU(B) 1937 hatte eine neue Terrorwelle mit dem Ziel einer »Revolution der Kader« und der Vernichtung einer potentiellen »Fünften Kolonne« angekündigt. Dem Plenum folgten mehrere Aktionen der »Säuberung«, unter denen der Schlag gegen die Führung der Roten

Armee Ende Mai herausragte. Die eigentliche neue Terrorwelle wurde durch den Beschluß des Politbüros vom 2. Juli 1937 »Über antisowjetische Elemente« eingeleitet. Er wies an, in allen Regionen des Landes zur Durchführung der Verhaftungen und Erschießungen »Troikas« einzurichten, denen der zuständige Chef des NKWD, der Staatsanwalt und der Erste Parteisekretär angehören sollten. Am 31. Juli bestätigte das Politbüro den operativen Befehl Nr. 00447 des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten (NKWD). Er sah als Beginn des blutigen Unternehmens die Zeit vom 5. bis 15. August vor Zunächst nur für die Dauer von vier Monaten geplant, wurde diese Terrorwelle von Stalin noch bis Mitte November 1938 in Gang gehalten. Sie traf alle Schichten der Bevölkerung und demoralisierte das Land.

Die Ursachen für diese Terrorwelle waren auch diesmal vorrangig politischer Natur, während wirtschaftliche Erwägungen bei der »Zuführung« von Menschen in die Arbeitslager geringere Bedeutung besaßen. Der »Große Terror« war in gewisser Weise der Schlußakkord einer Kette von »Säuberungen« in den 30er Jahren, mit denen das System seine Macht zu festigen suchte. Das Politbüro, vor allem aber Stalin selbst, überwachte und dirigierte diese Orgie des Schreckens, erteilte die entsprechenden Weisungen und bestätigte die Befehle des NKWD, darunter auch die Veranstaltung von etwa 35 Schauprozessen in allen Landesteilen.

Der Autor vermeidet es, auf die Diskussion über die Zahl der Opfer der Terroraktionen näher einzugehen. Es habe sich jedenfalls um mehrere Millionen Menschen gehandelt, die entweder in die Gefängnisse und Lager gebracht oder sofort erschossen wurden. Der »Große Terror« setzte die Alleinherrschaft Stalins endgültig durch. Mit ihm beseitigte Stalin auch im Politbüro jene Mitglieder, die ihm gefährlich erschienen. Physisch vernichtete er in diesem Zeitraum die Kandidaten und Mitglieder des Politbüros J. Rudsutak, W Tschubar, R. Eiche, S. Kossior und L. Postyschew Erschossen wurde Anfang 1939 auch N. Jeshow, den Stalin zum Chef des NKWD (27 11. 1936) und Kandidaten des Politbüros (12. 10. 1937) gemacht hatte, damit er ihm das schmutzige Geschäft der »Säuberung« besorgte.

Die alten Mitstreiter Stalins im Politbüro (Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und Kalinin) gerieten jetzt völlig in seine Abhängigkeit. Zugleich umgab sich Stalin mit neuen »Aufsteigern«, unter ihnen A. Shdanow, L. Berija, N. Chrustschow und G. Malenkow, von denen er annehmen konnte, daß sie ihm als dem bestem Sachwalter des politischen Systems halfen, seine Machtstellung zu sichern. Das Politbüro, dem nach dem XVIII. Parteitag (März 1939) neun Mitglieder und zwei Kandidaten angehörten, war jetzt bestenfalls noch ein Beratungsorgan und nur noch einem rechenschaftspflichtig: dem Diktator Stalin.

Oleg W Chlewnjuk: Das Politbüro. Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der 30er Jahre. Aus dem Russ. v Ruth und Heinz Deutschland. Hamburger Edition 1998. 422 S., 68 DM.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!