Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Maurer und Ministerpräsident. Willi Stoph im 85. Lebensjahr gestorben

Er war der ewig zweite Mann der DDR

  • Gerhard Schürer
  • Lesedauer: 6 Min.

Oft sah Willi Stoph in seiner aktiven Zeit so aus, als würde Krankheit einen unmittelbaren Amtsverzicht erfordern oder gar seinem Leben ein Ende setzen. Doch die Partei und der Staat, denen er gedient hat, sind vor ihm gestorben. Im Juli 1989, zu seinem 75. Geburtstag, empfing Willi Stoph noch alle Ehrungen, im Lande und international, die seinerzeit für ein Politbüromitglied der SED üblich waren. Zumal er damals der Dienstälteste in diesem Gremium gewesen ist. Und darüber hinaus war er 22 Jahre lang Ministerpräsident der DDR. Die Reihenfolge ist bewußt gewählt.

Wenige Wochen später, am 7 November 1989, trat die Regierung Stoph zurück. Willi Stoph besaß die Courage, vor der Volkskammer einzugestehen, daß der Ministerrat seine politische Verantwortung vor der Verfassung nicht wahrgenommen habe. Stophs ergänzende Bemerkung, daß die Befugnisse der Regierung stark eingeschränkt waren, entsprach ebenfalls der Wahrheit. Nicht nur wegen der in der Verfassung festgeschriebenen führenden Rolle der SED, sondern auch, weil Günter Mittag und die Wirtschaftskommission des Politbüros, auf Erich Honeckers Wunsch oder mit seiner Duldung, immer mehr Macht an sich gerissen hatten.

Erst am 17 Oktober 1989, viel zu spät, nahm Willi Stoph die Verantwortung auf sich, die Abberufung Honeckers auf die

Tagesordnung des Politbüros zu setzen. Zuvor und lange Zeit hatte er, wohl manchmal gegen seine eigenen Erkenntnisse und Ahnungen, alles mitgemacht, auch Dinge, die ihm nicht gefielen. Zuverlässig und bis zur Selbstverleugnung loyal gegenüber Walter Ulbricht und später Erich Honecker, garantierte er mit seiner Persönlichkeit, daß aus dem Ministerrat keine Störgröße wurde, die die Einheit und Geschlossenheit des politischen Handelns gefährden könnte, was wir überlang für eine große Errungenschaft hielten.

Der gelernte Maurer Willi Stoph, 1914 in einer Berliner Arbeiterfamilie geboren, schloß sich mit 17 der KPD an. Im Zweiten Weltkrieg wurde er Stabsgefreiter. Wie man weiß, ein Abstellgleis für Langgediente der niedersten Dienstgradstufe. Dies und ein Artikel Stophs, in dem er sagte, daß die Teilnahme an einer Parade zu Hitlers Geburtstag für ihn das »größte Erlebnis« gewesen sei, gaben Anlaß zu Spekulationen. Wahr ist aber, daß Willi Stoph am illegalen antifaschistischen Widerstand teilnahm, für den jeder wichtig war, auch der, der einer Verhaftung zu entgehen wußte.

Nach dem Krieg war Willi Stoph von der ersten Stunde an aktiv Zunächst bei der Organisation der Industrie und des Bauwesens in der sowjetisch besetzten Zone, bereits seit 1950 als Sekretär und Mitglied des Zentralkomitees der SED Entscheidend für seine weitere Entwicklung war wohl der Auftrag, als Innenminister (1952-1956) die »Kasernierte Volkspolizei« aufzubauen und dann als

erster Verteidigungsminister der DDR die Nationale Volksarmee zu befehligen. Das hat den Parteisoldaten Willi Stoph ganz spezifisch in die politische Disziplin getrieben. Wenn er es als notwendig erachtete, bis zur Preisgabe eigener Prinzipien.

Es ist heute wahrscheinlich schwer zu verstehen, daß seine Ernennung zum Ersten Stellvertreter des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl im Jahre 1962 eigentlich eine Absetzung als Verteidigungsminister gewesen ist. Wegen der Debatten um den erwähnten Artikel, die aufgekommen waren. Eine Absetzung, die seinen Einfluß stärkte, denn Otto Grotewohl war schon krank, und Willi Stoph leitete sehr schnell faktisch die Regierungsgeschäfte. Das blieb so bis zum bitteren Ende 1989 Mit einer Unterbrechung - von 1973 bis 1976. Da sollte Horst Sindermann die vom VIII. Parteitag der SED beschlossene Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik ankurbeln, und Willi Stoph wurde ins Amt des Vorsitzenden des Staatsrates versetzt. Seine Verantwortung für die DDR mit ihren zeitweiligen unbestreitbaren Erfolgen, ihren Widersprüchen, Mängeln und Rückschlägen war also sehr groß.

Willi Stoph genoß wie kaum ein anderer enorme Autorität bei der Führungsspitze der UdSSR, besonders in der Ära Leonid Breshnews. Ob der Ministerpräsident Kossygin, Tichonow oder Ryschkow hieß, immer ist Hochachtung spürbar gewesen. Obwohl er keine sowjetische Schule besucht hatte und kaum Russisch sprach, galt er sowjetischen

Spitzenpolitikern als Garant, daß keine unkontrollierten Entwicklungen in der DDR stattfinden. Niemals wäre Willi Stoph der Gedanke gekommen, daß das Land der Oktoberrevolution zu seinen Lebzeiten untergehen könnte.

Aus dem politischen Leben Willi Stophs haben sich besonders seine beiden Treffen mit Willy Brandt 1970 in Erfurt und Kassel eingeprägt. Der etwas hölzern wirkende Stoph bewies in außenpolitischen Verhandlungen durchaus Geschick und Flexibilität, soweit ihn nicht harte Direktiven daran hinderten. Leider wurde er später aus der Außenpolitik konsequent herausgehalten, weil Erich Honecker sie als seine Domäne betrachtete. Das war auch die Ursache dafür, daß Willi Stoph 1976 als Vorsitzender des Staatsrates abtreten mußte. Denn Erich Honecker wollte als Generalsekretär des ZK der SED auch international agieren.

Ich war 27 Jahre lang Minister bzw stellvertretender Ministerpräsident der DDR, und mich hat der Tod Willi Stophs sehr berührt. Ich weiß, daß Willi Stoph ein Mensch von unnahbarer Strenge, soldatischer Disziplin und Beschlußtreue bis zum Äußersten gewesen ist. Man mußte sehr lange mit ihm bekannt sein, bis er einmal sein Herz öffnete. Und das auch nur unter vier Augen. Freunde zu haben, vermied er prinzipiell, aus der Sorge heraus, daß ihm eine fraktionelle Tätigkeit in der Partei angelastet werden könnte. Das machte Willi Stoph einsam.

Den wachsenden Widerspruch zwischen geschönten Berichten und den Tatsachen kannte und fürchtete er wohl. Aber er resignierte schließlich und suchte Ablenkung oft in langen Diskussionen über globale Probleme der Umwelt und alternative Energiequellen, ohne reale Entscheidungsvorschläge zu haben. Oder er lenkte ab auf Detailfragen, bis hin zu Kleinkram. Kamen aber Fragen des Bauwesens und der Obst- und Gemüseproduktion zur Sprache, wo er sich gut auskannte, diskutierte er sich oft in die Leidenschaft eines vermeintlich unschlagbaren Spezialisten hinein. Aber anson-

sten hat kaum einer Willi Stoph extrem zornig oder gar lachend gesehen. Immer war er der Staatsmann im Dienst. Hartnäckig blieb er bei den beschlossenen Zielen, auch dann noch, wenn das Leben Korrekturen erforderte. »Beschlüsse müssen durchgeführt werden. Nur derjenige, der den Beschluß gefaßt hat, darf ihn ändern«, hieß eine Maxime seiner Tätigkeit. Das war ja ein Grundprinzip der SED und verhinderte oft die Diskussion besserer Ideen. Als ich beispielsweise 1977 wegen der dramatischen Entwicklung der Verschuldung der DDR Vorschläge zur Veränderung machte, schrieb Willi Stoph wider besseres Wissen in seiner steilen Sütterlin-Schrift auf meine Ausarbeitung, daß nicht die Zahlungsbilanz, sondern die Beschlüsse zur Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik Grundlage unseres Handelns sein müssen.

Widersprüchliches fand sich auch in seiner persönlichen Lebensführung. Er konnte bescheiden sein, rauchte Zigaretten der billigsten DDR-Sorte, kleidete sich stets korrekt, trug aber seine Anzüge lange ab, trank außer einem Bier kaum Alkohol und sparte auch bei langen Sitzungen zum Leidwesen der Teilnehmer gern das Essen und den Kaffee ein. Im Gegensatz zu diesen Gewohnheiten bereitete es ihm nach der Wende viel Ärger, daß er an der Müritz das größte Jagdhaus von allen bewohnt hatte und dort mit hohem Aufwand von Elektroenergie und Arbeitskraft anderer seinen Hobbys nachging, um sich zu entspannen und sein ?angeschlagenes Selbstwertgefühl aufzufrischen. Diese damals grell beleuchtete Szene ist inzwischen angesichts der Lebensgewohnheiten und Besitzstände heutiger Politiker etwas verblaßt, aber nicht vergessen.

Auch wenn ich auf Widerspruch stoße, glaube ich zu wissen, daß nicht wenige Trauer über den Tod Willi Stophs empfinden, der oft als der ewig zweite Mann der DDR bezeichnet wurde.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal