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Erfolgreiches Experiment

  • Lesedauer: 5 Min.

Geschafft! Prost aufs Abi! Marek und die anderen polnischen Mitschüler nehmen in diesem Sommer Abschied von Löcknitz

Foto: Walther

Mindestens schon seit 1992, als die heutigen deutschen Abiturienten in die damalige 5. Klasse des Löcknitzer Gymnasiums kamen, hatte es die Idee von einer deutsch-polnischen Schule gegeben. Vor allem die enge Partnerschaft mit einer polnischen Schule in Police vor den Toren der polnischen Hafenstadt und dessen Direktor Jerzy Kliszewski hat die Idee Realität werden lassen und auch politische Mehrheiten dafür geschaffen. Am Ende der Bemühungen stand eine Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern, dem

Landkreis Uecker-Randow und der entsprechenden Wojewodschaft auf polnischer Seite. Es folgte die Phase des »sich Entgegenkommens« der jungen Polen und Deutschen. Und eine Umstellung der Pädagogen auf die völlig neue Situation. Besonders die Tutoren der drei 12. Klassen, Sylvia Menzel, Karin Zimmermann und Wolfgang Scholz sowie deren polnische Kollegin Elszbieta Luszczynska, hatten am erfolgreichen Experiment Deutsch-Polnisches Gymnasium Anteil.

Nicht alle der zu Beginn mehr als 70 Schüler haben es bis zum Abi geschafft. Das gibt es natürlich auch an jeder »nor j « malen« Schule und muß nicht unbedingt etwas.mit den »Mißtönen in der Anfangszeit« zu tun haben. Von denen sprach Klaus Ranner, der deutsche Generalkonsul in Szczecin. Gemeint sind damit offensichtlich massive Pöbeleien rechter Jugendlicher gegenüber polnischen Schülern in den ersten Monaten. Inzwischen seien die Mißtöne verstummt. In Löcknitz selbst gab es anfänglich Mißverständnisse aus Unkenntnis.

»Wir haben uns, nachdem wir die deutsche Sprache erlernt haben, wirklich gut verstanden«, erzählt Marek Roszynski. Er stammt wie die meisten Polen am Gymnasium aus Police. »Vor allem die gemeinsamen Fahrten waren toll. Wir Schüler hatten wirklich ein sehr herzli-

ches Verhältnis«, betont Marek. Wie auch Pawel Moskalonek weiß Marek noch nicht genau, wo und was er studieren wird. »In Deutschland oder Polen oder auch in beiden Ländern.« Überhaupt scheint des Lebens Ernsthaftigkeit an einem solchen Tag ganz weit weg. Daß sein Onkel ob der nicht eben schmeichelhaften Deutsch-Note auf dem Zeugnis die Stirn runzelt, kann Pawel nicht anfechten.

Für Generalkonsul Klaus Ranner ist der Tag der Zeugnisübergabe das schön-

ste Geschenk zum Ende seiner Dienstzeit. Die begann er vor drei Jahren. »Die sehr -positive- Entwicklung des* TJeuTs'ch-Polni-' sehen Gymnasiums hat nichts damit zu tun, daß auch mein Sohn hier sein Abitur abgelegt hat.« Als der Konsul nach Szczecin kam, gab es das Gymnasium schon, »und ich wollte für meinen Sohn eine Schule in Wohnortnähe«. Ranner, der sich bei-seiner Rede nahezu simultan ins Polnische übersetzt und bereits in den 80er Jahren an der bundesdeutschen Botschaft in Warschau tätig war, hat ein Grußwort mitgebracht. Von einem wichtigen Schritt, den das Abitur bedeute, ist darin die Rede. Und vom Leben, das nun immer mehr in die eigenen Hände genommen werden müsse.

Und weil die Grußworte von seinem Dienstherrn Joseph Fischer stammen (was Klaus Ranner sich für den Schluß

aufgehoben hat), geht es darin auch um die Früchte offener Grenzen und der Globalisierung, die die Abiturienten nun ernten könnten. Das Haus Europa sollen die jungen Leute bauen. »Sie, liebe Abiturienten, haben es den Politikern vorgemacht«, lobt Ranner Offenbar ein Hinweis an die Adresse jener Politiker, die an einem solch wichtigem Tag nicht wie erhofft - in Gestalt von Ministern aus Warschau, Schwerin oder gar Bonn ins Szczeciner Schloß gekommen sind.

Zum Schluß ernennt Ranner die Abiturienten noch zu »Kollegen«, zu Botschaftern nämlich in Sachen Völkerverständigung. Mit den offenen Grenzen ist das zwar im Moment noch so eine Sache, weil zum Beispiel die Anreise der deutschen Abiturienten und deren Eltern durch das Umsteigen in altersschwache polnische Busse bei tropischen Temperaturen durchaus etwas von »Strafexpedition« hat, wie es ein Lehrer ironisch formuliert. Aber im Prinzip hat Fischer natürlich recht. Szczecin ist Boomtown.

Längst schon haben sich die Vorstädte entlang der Laubenkolonie und dem vor-“mälige'n“ 'Stadtteil Scheune “in Richtung Grenze gefressen. Wohnparks schießen wie Pilze aus dem Boden, und ein gigantisches Einkaufszentrum entsteht.

Und während in den Baracken und Wechselstuben gleich hinter der mitten durch eine Kiefernschonung gezogenen Grenze Deutsch an erster Stelle steht, findet man in Szceczin selbst die Sprache des großen Nachbarn nur selten. Im zweiten Weltkrieg stark zerstört, sollte das frühere »Tor Berlins zur Welt« mit seinem größeren, westlich der Oder gelegenen Teil, bei Deutschland bleiben. Bis zum Herbst 1945 hatte dort bereits eine deutsche Stadtverwaltung mit ihrer Arbeit begonnen, als Stettin samt weitläufigem Vorland (ebenso wie Swinemünde) auf Wunsch Polens nachträglich seinem

Staatsgebiet zugeschlagen wurde. Damit ging nicht nur der deutschen Hauptstadt ihr Tor verloren. Urplötzlich waren auch die Städte und Dörfer westlich der neuen Grenze vom natürlich gewachsenen Zentrum der Region abgeschnitten.

Stettin war die einzige Großstadt der preußischen Provinz Pommern. Das heutige Sczcecin ist die größte Stadt zwischen Hamburg und Gdansk, die ihr Selbstbewußtsein aus der pommerschen Geschichte und der Historie als Hansestadt tankt. Selbstbewußt und unverkrampft gehen seine Bewohner auch damit um, daß in Deutschland (und seit zehn Jahren auch wieder in dessen östlichem Drittel) der alte Name »Stettin« gebraucht wird. Das Stadtzentrum präsentiert sich als vielleicht nicht schöne, aber allemal spannende Mischung aus wilhelminischwuchtigen Häuserblocks, Kriegslücken mehr schlecht als recht füllender sozialistischer Plattenarchitektur und Neubauten westlichen Stils: Alles gepaart mit polnischem Charme. Und weil diese Stadt die Zukunft auch für die deutschen Randgebiete sein soll, soll Philipp Milz nach einer Großhandelskaufmannslehre in der Stettiner Filiale einer Rostocker Firma arbeiten. »Der Junge kann durch die zwei Jahre, die wir vor der Wende in Kanada gelebt haben, perfekt Englisch.« Nun spricht er auch noch polnisch und hat, meint Vater Ralf, damit die besten Voraussetzungen, um bei der künftigen Entwicklung zu bestehen und auch ein Wörtchen mitreden zu können.

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