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Den Sozialismus gab es und gibt es noch heute

  • Lesedauer: 3 Min.

Zu »An der Wirtschaftsordnung ist die DDR am wenigsten gescheitert« von Prof. Arno Lange (16. 7.):

Dass es »richtigen« Sozialismus gab oder in einigen Ländern noch gibt, das wird seit 1989 vehement bestritten. In den »Wende«-Jahren vergossen Bohley und Wollenberger-Lengsfeld Tränen über die Defizite des Sozialismus. Die Methode dieser Aktivisten des DDR-Untergangs war simpel: Der DDR-Sozialismus wurde an einem idealen Gesellschaftsmodell gemessen und folgerichtig als zu leicht befunden.

Seit längerem ist aber zu beobachten, daß auch subjektiv ehrliche Linke ihre Schwierigkeiten mit der angerichteten terminologischen Verwirrung bekommen. Da Arno Lange Marx ins Feld führt, werfen wir also einen Blick auf Marx. 1859 formulierte er folgende Forderung: »In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden

zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den Ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.« Bereits der 26jährige Marx hatte 1844 in seinen Pariser Manuskripten urchaus nicht idealisiert, wenn er ihn in den Erscheinungsformen bzw Entwicklungsstadien beschrieb: roher Kommunismus, politischer Kommunismus, demokratischer oder despotischer und schließlich »positiver Kommunismus«. Nur letzterer entspricht dem Ideal: »Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus - Humanismus, als vollendeter Humanismus - Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen... Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung,« Aber diesen Kommu-

nismus oder »Sozialismus« gab es in den letzten 70 Jahren natürlich nicht Die Qualität unseres Sozialismus war eine Mixtur aus (anfänglich) rohen und später politischem Kommunismus, der mal mehr despotisch, mal mehr demokratisch war. Positiven Kommunismus erlebten wir nur punktuell. Aber über die Mängel der neuen sozialistischen Gesellschaft war sich Marx auch später noch im Klaren. 1875 übt er Kritik am Gothaer Programm und stellte klar, dass eine künftige sozialistische Gesellschaft »noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt«. Dieser verhängnisvolle Mix aus Muttermalen der alten Gesellschaft und den (notwendigen) Mängel und Missständen der neuen Gesellschaft haben den Sozialismustyp, den wir hatten, scheitern lassen. »In letzter Instanz« (Engels) waren es natürlich ökonomische Gründe, die den Sozialismus in Europa scheitern ließen. Auch wenn Lange das Gegenteil geltend macht. Marx und Engels waren konsequente

Materialisten und vermieden moralisierende Sentiments und Idealisierungen bei der Analyse und Wertung sozialer Zustände und Ereignisse. »Auch die Phantasien der Wahnsinnigen und die Traumvorstellungen«, notierte der 20-jährige Student, »sind wahr; denn sie sind eine treibende Kraft, das Nichtexistierende dagegen ist keine treibende Kraft.« Reichlich sechs Jahre später formulierte Marx. »Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesse.«

Aus dieser Betrachtungsweise von Marx wird deutlich, dass die Wirklichkeit auch dann zur Kenntnis zu nehmen ist, wenn sie den Erwartungen und Ansprüchen nicht genügt. Wer also Jahrzehnte in einer wie auch immer gearteten und sich widersprüchlich wandelnden sozialistischen Gesellschaft gelebt und diese etwa als Universitätslehrer mitgestaltet, zumindest mitdiskutiert hat, nach deren Niedergang nun aber feststellt, ein Sozialismus hätte gar nicht existiert, ist nicht auf der Höhe des marxistischen Materialismus.

Dr Horst Oertel 01217 Dresden

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