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  • Politik
  • Fritz Selbmann zum 100. Geburtstag

Kumpel, Minister, Schriftsteller

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine Tat Fritz Selbmanns vergessen auch selbsternannte »Aufarbeiter der Geschichte des SED-Unrechtsstaates« nicht zu erwähnen: Am Vorabend des 17 Juni 1953 sprach er vor dem Haus der Ministerien von einem eilig herbeigeschafften Tisch herab zu den aufgebrachten Streikenden. Er wollte den Arbeitern erklären, dass der Normenbeschluss, der die Proteste ausgelöst hatte, zurückgenommen worden sei, wurde aber wiederholt unterbrochen, ließ jemanden aus der Menge reden und versuchte dann selbst erneut das Wort zu ergreifen. »Als ich dann wieder allein auf dem Tisch stand und zu sprechen begann, wurden aus dem gegenüberliegenden Ruinengrundstück Steine geworfen, und zwar in sich schnell steigernder Zahl, so dass ich ziemlich eingedeckt war, wenngleich nicht direkt getroffen wurde.« Selbmann gab auf, »da es zwecklos war, weiter auf dem Tisch zu stehen und sich dem Gejohle der Menge auszusetzen.« So schildert der Minister selbst seine größte öffentliche Blamage, die er im Auftrag von Partei und Regierung erlitt.*

War er danach verzweifelt? Resigniert? Verkroch er sich in einen sicheren Unterschlupf? Keineswegs. Schon am nächsten Tag, den 17. Juni, ist er in Dresden. Am 18. Juni spricht er zu den Stahl- und Walzwerkern in Riesa und Gröditz, diesmal von einem gesicherten Fahrzeug aus. Und diesmal zeitigen seine Worte Wirkung. Der damals 54-jährige Fritz Selbmann hatte schon zu viel erlebt, auch manche schwerere Niederlage, um sich von dem Geschehen vor dem Haus der Ministerien entmutigen zu lassen und in seinem Glauben an den Sozialismus zu wanken.

Der am 29 September 1899 in Hessen Geborene wurde Bergmann, war Soldat

Fritz Selbmann 1955 bei Braunkohlearbeitern Foto: ND-Archiv

im Ersten Weltkrieg. Er schloss sich 1922 der KPD an. 1933, als Bezirksleiter der KPD in Leipzig, wurde er von den Nazis verhaftet, saß sieben Jahre im Zuchthaus und anschießend bis 1945 in Konzentrationslagern. Seine erneute Tätigkeit als KPD-Funktionär begann er dort, wo er 1933 aufhören musste, in Leipzig. Schon wenige Monate nach dem Kriege wurde er in der Landesverwaltung Sachsen Vizepräsident und Minister. Von Dresden rief ihn die SED-Führung 1947 zur Deutschen Wirtschaftskommission als Heinrich Raus Stellvertreter nach Berlin. Im Oktober 1949 wurde Selbmann erster (und einzi-

ger) Industrieminister der DDR. Ihm übertrug die Partei die Realisierung der Hauptaufgabe des ersten Fünfjahrplanes, die Entwicklung der Schwerindustrie. Mit Herz und Verstand engagierte er sich für den Aufbau des Eisenhüttenkombinats Ost an der Oder. Als der erste Hochofen am 19 September 1951 vor höchsten Regierungsvertretern angeblasen wurde - der Termin war im Übereifer vorverlegt und dadurch unrealistisch geworden -, rettete Selbmann die Show für Prominenz und Presse durch einen technischen Trick. Eine, wie er selbst schreibt, kleine lässliche Sünde, »die aber doch eine Täuschung der festlich gestimmten Massen war«.

Erik Neutsch hat diese Szene in »Der Friede im Osten« verarbeitet, wo Fritz Selbmann das Vorbild für den Genossen Bürgmann wurde. Es war nicht das einzige Mal, dass Fritz Selbmann die Vorlage für eine literarische Figur abgab. Die Szene vor dem Haus der Ministerien hat Hermann Kant im »Impressum« verarbeitet, wo Selbmann Andermann heißt.

Nach dem 17. Juni musste Selbmann für Ulbricht Feuerwehr spielen. Auf sein Geheiß hin redete er nicht nur in Dresden, Riesa und Gröditz, sondern einen Monat nach dem Arbeiteraufstand auch im Bunawerk, wo es erneut zu einem Streik gekommen war, mit den Arbeitern. Daraus darf man weder schlussfolgern, dass Selbmann ein enger Vertrauter Ulbrichts war, noch ein braver Parteisoldat. Seine Unabhängigkeit war der Grund dafür, dass ihn Herrnstadt in jenen Junitagen 1953, als Ulbrichts Stellung schwankte, für ein Parteigremium vorschlug, das Ulbricht Zügel anlegen sollte. * Selbmann, zweifellos einer der führenden Köpfe der SED, war er auch immer wieder ein Querkopf, der für »Parteidisziplin an sich« nie die dafür erforderliche Selbstverleugnung aufbrachte. »Er war ein Rechthaber, manchmal auch um einen

hohen Preis«, beschrieb die Schriftstellerin Gisela Steineckert diese Seite seines Charakters. »Er war das Gegenteil eines >Menschen im Futterak, er war eine weit über das gewöhnliche Maß hinausreichende originale Persönlichkeit... Er war gelegentlich so unvorsichtig, das zu zeigen. Solche Persönlichkeiten sind nicht überall beliebt. Bei schwachen Naturen erregen sie Furcht. Mit Gleichgearteten kommt es leicht zu persönlichem Konflikt. Aber sie sind Zugpferde«, charakterisierte Wilhelm Girnus den Minister.

Der Konflikt mit Ulbricht war, so gesehen, schon in Selbmanns Charakter angelegt. 1957 kam es zumJiruch. Selbmann zog sich Ende der 50er Jahre mehr und mehr auf die Schriftstellerei zurück. Im Jahre 1961 erschien »Die lange Nacht«, eine Verarbeitung seiner Erlebnisse in der Nazizeit. Wiederholt setzte er sich literarisch mit dem deutschen Faschismus auseinander. Am meisten gelesen wurden die Romane von ihm, in denen er seine Erlebnisse und Erfahrungen als Wirtschaftsfunktionär verarbeitete: 1962 erschien »Die Heimkehr des Joachim Ott«, 1965 »Die Söhne der Wölfe«.

Bequemer machte es Fritz Selbmann den DDR-Oberen auch als Schriftsteller nicht. Im »Joachim Ott« schilderte er als erster schonungslos die verheerende Wirkung der sowjetischen Demontagen und wagte es, ausführlich einen Streik in einem VEB darzustellen. In den »Söhnen der Wölfe« sprach er ein anderes Tabu an: Die höhere Leistung der Arbeiter im kapitalistischen Westen Berlins im Vergleich zum sozialistischen Osten. Auch als Schriftsteller blieben Fritz Selbmann herbe Niederlagen nicht erspart. Die drückendste war wohl, dass nach dem ersten Band seiner Erinnerungen (»Alternative -Bilanz - Credo«) der zweite nicht erscheinen durfte (»Acht Jahre und ein Tag«). Er blieb auch nach Selbmanns Tod 1975 unveröffentlicht.

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