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  • Politik
  • Manfred Wekwerths »Gefährliche Liebschaften« auf Tournee mit dem Theater des Ostens

Das belachte Erschrecken

  • Thomas Schmitz-Bender
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende dieses Jahrhunderts musste es möglich sein, die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen und mehr als zu befriedigen. Stattdessen werden die großen und kleinen Anläufe, die in dieser Richtung unternommen wurden, zu gescheiterten Irrwegen und eine umfassende Bedürfnisbefriedigung zu einem Sakrileg erklärt. Weil damit der Anreiz zur Arbeit verloren ginge. Die Geschichte Scheint wieder einmal zum Stillstand gekommen zu sein.

Zwei Jahrhunderte zuvor lagen nur sieben Jahre zwischen dem Erscheinen eines Buchs, das sich ganz auf die Frage der Befriedigung bzw. Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses konzentrierte, und der Tätigkeit des Autors als General der Gro-ßen Französischen Revolution. Das Buch heißt »Gefährliche Liebschaften«, und der Autor Choderlos de Laclos schrieb es in der Absicht, »etwas Ungewöhnliches, Aufsehen Erregendes zu schreiben, et-

was, das noch in der Welt klingen würde, wenn ich sie längst verlassen habe«.

Tatsächlich wurde es in unserem Jahrhundert gleich mehrfach verfilmt, u.a. mit Glenn Close und Michelle Pfeiffer. Schließlich ist es ein lohnender Filmstoff, wenn eine Marquise einen Vicomte nur dann an sich heran lässt, wenn der ein junges Mädchen, noch dazu ihre Nichte, zu Schanden verführt, und der Vicomte wiederum seinen Ehrgeiz darin sieht, eine weitere und sehr tugendhafte Frau zu Fall zu bringen.

Leider geht solche Verwertung als Filmstory auf Kosten des Tricks, mit dessen Hilfe es dem schreibenden Revolutionsgeneral gelang, seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten - indem er nämlich alles, was passiert, in Briefen berichtet, welche die Beteiligten einander schreiben. Da steht nicht nur drin, was geschah und die einzelnen Personen sagten, sondern was sich der jeweilige Briefschreiber dachte; bisweilen nehmen sich diese Briefe wie Schlachtpläne in einem Kriege aus ...

Manfred Wekwerth hat es nun geschafft, diesen Trick zu erhalten und das Ganze -Briefe und Handlung - zugleich als lebendiges Theater auf die Tournee-Bühne zu bringen. Man musste allerdings bis nach Lessings Wolfenbüttel reisen, um das Ergebnis dieser Arbeit erstmals besichtigen zu können. Das Theater des Ostens, dessen künstlerische Leiterin Vera Oelschlegel in den »Gefährlichen Liebschaften« eine bemerkenswerte Marquise von Merteuil spielt, begeht mit dieser Inszenierung zugleich sein 10-jähriges Jubiläum.

Verblüffend, wie gut die Verschränkung von Briefen und Handlung funktioniert. Da ist erstens eine adäquate Umsetzung des Briefromans, und da ist zweitens episches Theater - und zugleich eine schöne Demonstration, wie anwendbar es ist und wie sehr es Theater sein kann. Die Inszenierung wartet im Detail mit Überraschungen auf. So ist das junge Mädchen (Tanja Münz) nicht einfach jemand, die zu etwas verführt wird, wozu sie sich besser nicht verführen ließe - was für sie tragisch endet. Sondern da wird nachvollziehbar ein Gewinn an Lebensqualität gespielt.

Und die große Pointe, in welcher der Vicomte (Jürgen Lingmann) es gerade noch schafft, zu bleiben, was er ist (dies aber mit dem Tod im Duell bezahlt), wird mit Erschrecken belacht. Er wird zur tragischen Figur, die als eigenes Bedürfnis entdeckt, was er bislang bei anderen als Schwäche ausnutzte: nämlich echte Liebe.

Aber zugunsten der »Moral« entsagt er in einer »großen« brutalen Geste. Das ist auf seine Weise genauso einschneidend und »tugendhaft« wie die Selbstkastration des »Hofmeisters« von Jakob Michael Lenz (1774) - auch wenn der Vicomte scheinbar das Gegenteil tut, indem er mit dem Verzicht auf seine Liebe sein scheinbar »ausschweifendes« Leben fortsetzt.

Das Verdienst der Schauspieler besteht darin, die höchste Unmoral als Moral darzustellen, ohne die Figuren zu karikieren. Brüche nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel der Darstellung konkreter Menschen unter konkreten Verhältnissen - das ist heute nicht nur auf dem Theater eine ästhetische Seltenheit.

Reinhart Zimmermanns Bühnenbild: kein Rokoko-Interieur, aber auch kein Versuch, unbedingt heutig sein zu wollen. Sondern: einfach verräterisch fröhlich und farbig. Man kann natürlich auch in den geometrischen Formen an den Farbund Spiegelflächen einen ganz und gar nicht naturalistischen Verweis auf Historisches sehen und einen passenden Hintergrund fürs Vexierspiel von Moral und Unmoral.

Ich würde der lokalen Presse zustimmen, die die Fassung Wekwerths als »vorläufigen Höhepunkt aller bisherigen Dramatisierungen und Verfilmungen« bezeichnet und das Auftreten des »Theaters des Ostens« als »großes Theaterereignis«.

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