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Streit um das Gewaltmonopol der UNO

ND-Gespräch mit Wolfgang Gehrcke, Vizevorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion

  • Lesedauer: 4 Min.

? Der Bundestag hat mit den Stimmen aller anderen Fraktionen ein Papier zum OSZE-Gipfel verabschiedet. Die PDS hat sich enthalten. Warum?

Am Donnerstag beginnt in Istanbul der Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zu dem die Staats- und Regierungschefs aus 53 Mitgliedstaaten erwartet werden. Wir sprachen mit Wolfgang Gehrcke, Vizevorsitzender und außenpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Bundestag, über die Rolle der OSZE in einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur.

ND-Foto: Burkhard Lange

tion hat und nicht zusätzliche Militärfeuerwehr spielen sollte. Die USA würden die OSZE ja ganz gern zu einer Unterorganisation der NATO machen, die überall dort eingreift, wo es für die Allianz nicht geboten scheint. Wir lehnen eine Militarisierung von OSZE wie EU ab.

? Eine Stärkung aber braucht die OSZE schon. Bei nicht wenigen Missionen in der Vergangenheit schien sie überfordert.

Richtig. Aber es ist politisches Kalkül, die OSZE so knapp zu halten, dass sie praktisch nur selten mit Erfolgen glänzen kann. Das war ja auch bei der Beobachter-Misssion in Kosovo der Fall.

? Liegt diese Ablehnung einer Militarisierung von OSZE und EU nicht auf der Linie all jener in der PDS, die die Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen grundsätzlich ablehnen und deshalb gegen die Einzelfallprüfung für UNO-Militäreinsätze sind?

Ich bin immer der Auffassung gewesen, dass Gewaltfreiheit, dass Krisenvorbeugung und Krisendämpfung den Vorrang haben müssen. Der Kern der Differenzen in der PDS liegt woanders, nämlich in der Frage, ob man die UN-Charta als Ganzes akzeptiert, einschließlich ihres Kapitels VII, das in zwei Fällen - Gefährdung des Weltfriedens und Abwehr einer Aggression - auch den Einsatz militärischer Mittel erlaubt. Im Falle Osttimors etwa ging es darum, nach einer Volksabstimmung unter UNO-Schirmherrschaft das Abschlachten und die Vertreibung eben dieses Volkes zu verhindern.

? Geht das alles nicht von einer idealisierten UNO aus? Besteht nicht die Mög-

lichkeit, dass man mit der Legitimierung solcher Interventionen auch ganz anderen Interessen den Weg ebnet?

Ich rede mir die UNO nicht besser, als sie ist, natürlich muss sie sich reformieren. Allerdings nicht, indem Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat beansprucht. Aber die UNO ist in ihren Zusammenhängen auch viel komplexer, als sich das in der Debatte in Teilen der PDS widerspiegelt. Die NATO-Länder wussten schon, warum sie sich für den Kosovo-Krieg selbst mandatiert haben, in der UNO wären sie gescheitert. Die ehemaligen Blockfreien beginnen sich neu zu organisieren, neue Nord-Süd-Fronten entstehen usw. Man darf die UNO nicht verklären, in einer differenzierten Einschätzung aber auch nicht einfach auf ein Instrument der Großmächte reduzieren.

? Die Gefahr, dass aus Einzelfällen schnell die Regel wird, wie man exemplarisch an grünen Positionen zu Bundeswehreinsätzen und UNO-Mandatierung erleben konnte, sehen Sie also nicht?

Das Problem der Grünen war und ist, dass sie keine wirklich durchdachte Au-ßen- und Sicherheitspolitik haben. Sie sind eine Zeit lang auf einem gefühlsmä-ßigen Pazifismus geschwommen, der inhaltlich-konzeptionell überhaupt nicht untersetzt war. Konfrontiert mit den Realitäten des Regierungslebens, sind sie von einem Extrem ins andere verfallen und waren nahtlos mit denselben Argumenten, mit denen sie vorher gegen Militäreinsätze argumentierten, im Lager der Kriegsbetreiber. Fischers ganze Menschenrechtsargumentation, so pathetisch

sie daherkommt, spricht nur dafür, dass es keine rationale, berechenbare und auf Selbstbeschränkung beruhende deutsche Außenpolitik gibt. Deshalb müssen wir als PDS rational argumentieren, nichts idealisieren, Gefahren erkennen, aber auch Chancen nutzen. Dann rutscht man auch nicht von der Einzelfallbeurteilung in den Sumpf der Regel.

? Ein wichtiges Thema in Istanbul wird der KSE-Vertrag sein, der den Bedingungen nach dem Ende des Warschauer Vertrages angepasst werden soll. Aber ist nicht auch die neue Variante weit vom eigentlich Notwendigen entfernt?

Der KSE-Vertrag, der in Istanbul unterschrieben werden soll, ist selbst kein OS-ZE-Gipfel-Dokument. Dieser Vertrag über die konventionelle Rüstung in Europa setzt Obergrenzen in fünf Waffengattungen. Die meisten Länder liegen mit ihrer Ist-Rüstung unter diesen Obergrenzen, das heißt, wir haben es nicht mit einem Abrüstungsvertrag, sondern mit einem Rüstungskontrollvertrag zu tun. In Zeiten, da sich die USA weigern, den Atomsteststoppvertrag zu ratifizieren, wäre selbst das schon zu begrüßen. Wir haben als Fraktion die Bundesregierung aber auch aufgefordert, Vorschläge zu unterbreiten, die verhindern, dass im Schütze quantitativer Obergrenzen eine qualitative Umrüstung im konventionellen Bereich stattfindet. Dieser Frage ist man bisher ausgewichen.

? Rechnen Sie mit einem erfolgreichen Gipfel in Istanbul?

Ich bin trotz aller Probleme durchaus optimistisch. Ich denke, der Gipfel wird eine Sicherheitscharta verabschieden. Und in diesem Fall wird die PDS-Fraktion auch im Bundestag darauf drängen, dem Dokument zumindest einseitig Rechtscharakter zu verleihen. Das wäre doch mal ein sinnvoller deutscher Sonderweg.

Fragen: Olaf Standke

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