Föderalistisches Chaos

Unter der Vielfalt im Bildungssystem leiden vor allem die Schüler

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 4 Min.
Im deutschen Bildungssystem herrscht föderalistisches Chaos. Mit ihrem Beschluss von letzter Woche, in einigen Fächern bundeseinheitliche Abiturstandards einzuführen, wollen die Länder Ordnung in das System bringen. Wie reformbedürftig der Bildungsföderalismus ist, müssen Schüler erfahren, die von einem Bundesland in ein anderes wechseln.

Seinen Umzug nach Bayern hatte sich Heiko Metzger reibungsloser vorgestellt. Für ihn persönlich lief es gut: Früher freigestellter Betriebsrat beim Bergwerk Saar, übernahm er vor rund zehn Jahren einen neuen Job als Gewerkschaftssekretär, betreute Betriebe der chemischen Industrie im Raum Altötting im südöstlichen Bayern. 570 Kilometer legte Metzger zweieinhalb Jahre lang als Wochenendpendler zurück, einmal quer durch die Republik von der französischen an die österreichische Grenze. Dann entschloss sich seine Familie mitzukommen. Seine Tochter besuchte damals die sechste Klasse einer saarländischen Realschule, ihr Notendurchschnitt auf dem Halbjahreszeugnis betrug 2,0. Kein Grund zur Sorge also, doch plötzlich ging es rapide abwärts. »Binnen weniger Monate stand Selina in fast allen Fächern auf einer Fünf«, erinnert sich Metzger, »die Versetzung war gefährdet«. Der Grund war kein plötzlicher Leistungsabfall, sondern der höhere Lernstandard: »Die neue Schule hier war der alten um rund ein Jahr voraus.«

Arbeitnehmer mit schulpflichtigen Kindern, die in Deutschland das Bundesland wechseln, bekommen handfeste Probleme. Gemeinsamer Unterricht mal bis zur vierten, mal bis zur sechsten oder auch bis zur zehnten Klasse; unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen zur weiterführenden Schule; Abitur mal nach acht, mal nach neun Jahren: Dass einheitliche Lernbedingungen nicht vorhanden sind, bedeutet Stress für alle Beteiligten. Wenn Eltern eine neue Stelle antreten und Familien in einer anderen Region heimisch werden wollen, finden sie manchmal ein völlig anders aufgebautes Schulsystem vor.

Beispiel Schulwechsel: Die Regelungen gleichen einem föderalistischen Flickenteppich. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel führte 2007 ein, dass vorrangig die Lehrer entscheiden, ob ein Kind auf das Gymnasium wechseln darf. Nur wenn Schüler und Schülerinnen einen dreitägigen »Prognoseunterricht« erfolgreich absolvierten, war der Sprung auf die höhere Schulform doch noch zu schaffen. Ein negatives Ergebnis im Eignungstest dagegen führte zur Ablehnung durch die Schulaufsicht. In vielen Bundesländern können sich die Eltern über den Willen der Lehrkräfte hinwegsetzen. Anders in Bayern: Dort brauchen Grundschüler einen Durchschnitt von 2,33 im »Übertrittszeugnis« für das Gymnasium; auch in Baden-Württemberg entscheiden überwiegend die Noten. Im Saarland wiederum wurden die zuvor verbindlichen Übergangsgutachten wieder abgeschafft.

Gleiche Chancen für alle? In Hamburg kümmert sich ein Schulpsychologe im Schnitt um 5400 Schüler, in Niedersachsen ist er für mehr als 26 000 Kinder zuständig. Die sechzehn eigenständigen Bildungsministerien, die sich die Bundesrepublik leistet, sind nicht nur kostenintensiv, sondern auch eine Belastung für mobile Arbeitnehmer. Familie Metzger kam in Altötting auch deshalb in Schwierigkeiten, weil das Land Bayern versucht, ein relativ hohes Lernniveau auf Haupt- und Realschulen aufrecht zu erhalten - und dafür auf Gesamtschulen nahezu völlig verzichtet. Südlich des Mains stellt das gemeinsame Lernen bis zur zehnten Klasse die große Ausnahme dar.

Im Extremfall existiert nach einem Umzug die gewünschte Schulform am neuen Wohnort gar nicht. Eine Befragung des Meinungsforschungsinstitutes Forsa ergab 2009, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Eltern minderjähriger Kinder den Bildungsföderalismus ablehnt. Sie wünschen sich bundesweit vergleichbare Lehrpläne, Schulsysteme und Abschlüsse. Annette Schavan, die offiziell zuständige Bundesministerin, müsste das Wort »Bildung« eigentlich aus dem Titel ihres Ressorts streichen und sich auf den zweiten Teilbereich Forschung beschränken. Denn mit der Föderalismusreform ist der Zankapfel Bildung definitiv zur Ländersache erklärt worden.

Damit habe »der Bund seine Restkompetenzen verscherbelt«, schimpft Chef-Leitartikler Heribert Prantl in der »Süddeutschen Zeitung«: »Die Anforderungen im Gymnasium weichen so stark voneinander ab, dass Jugendliche besser in Köln bleiben, wenn Väter oder Mütter eine neue Arbeitsstelle in München antreten.« Die in Deutschland praktizierte Kleinstaaterei in Sachen Bildung, überspitzt der Jurist Prantl, sei »praktizierte Bürgerferne, schikanös und eine staatsrechtliche Spielform des Sadismus: Er quält die Lehrer, er quält die Eltern und er quält die Schüler«.

Heiko Metzgers Tochter hat inzwischen übrigens ihre mittlere Reife. Sie wechselte schließlich auf eine Hauptschule mit Realschulzweig, das Wiederholen einer Klasse blieb ihr so erspart. Ein glückliches Ende mit Hindernissen: »Von der Schule kam wenig Hilfe«, ärgert sich Metzger, »wir haben uns die Hefte und Bücher aus dem Vorjahr besorgt, und meine Frau hat ganz viel mit Selina gelernt«. Der Gewerkschafter plädiert angesichts seiner Erfahrungen für einheitliche Bildungsstandards. Wohnortwechsel aus beruflichen Gründen dürften nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. »So ein schulischer Einbruch, wie ihn meine Tochter erlebt hat, hat doch massive Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung.«

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