Verkümmerte Menschen
Rainald Goetz‘ Roman »Johann Holtrop« - eine Besprechung
Martin Hatzius: Warum sprechen wir über dieses Buch? Doch auch, um dem Egozentrismus dieses Johann Holtrop etwas entgegenzusetzen. Statt vorzugeben, ich wüsste alles über dieses Buch, tauschen wir uns darüber aus.
Thomas Blum: Es geht in weiten Teilen des Romans zwar um die gesteigerte Egozentrik der Hauptfigur, im Mittelpunkt steht für mich aber etwas anderes. In manchen Rezensionen wurde moniert, der Roman habe keine klassisch aufgebaute Geschichte. Als müsse er das! Wenn Holtrop mit seinen Vorstandskollegen redet, dann sind das vollkommen leere, stumpfe Gesprächssimulationen. Diese Leute sind entkernte Figuren, die überhaupt nichts zu sagen haben und gar nicht selbstständig denken. Sie verkörpern etwas, das im Kapitalismus Alltag ist.
Was denn?
Eine absolut emotionslose Waren-haftigkeit.
Das sehe ich nicht so. Holtrop hat Wutausbrüche, Selbstverherrlichungsausbrüche, die sehr emotional sind. Er ist zwar kein sozialer Mensch, aber ein Mensch ist er schon. Er ist ein Mensch, der nur sich sieht, nur seine Visionen. Emotionslos ist er nicht.
Aber er ist auch nicht das, was man als fein verästelte psychologische Figur aus traditionellen Romanen kennt. Er ist schon sehr holzschnittartig gezeichnet. Obwohl er so emotional reagiert, ist er ein absolut oberflächlicher Mensch, ein »Blender«, wie es im Roman heißt. Er hat keine lebendige Beziehung zu seiner Umwelt.
Das ist der Punkt. Was ihm völlig fehlt, ist Empathie. Er sieht niemanden außer sich. Er ist von sich selbst so eingenommen, dass er seine eigene Wirkung und Tiefe völlig fehleinschätzt. Er behauptet irgendwann, Thomas Mann und Fontane verschlungen zu haben. Er beschließt aus einer absurden Laune heraus, selbst einen Roman zu schreiben. Er kokettiert mit seiner Liebe zu großen Vordenkern, obwohl er selbst, wie es einmal heißt, »im Wahn totaler Gegenwart« lebt.
Er hat davon gehört, dass es so etwas wie intellektuelle Auseinandersetzung gibt. Er weiß, dass das wichtig ist für die gesellschaftliche Anerkennung. Aber dass er sich hinsetzen und einen Roman schreiben möchte, ist nichts als eine fixe Idee ohne Substanz. Holtrop hält sich als Geschäftsmann für den totalen Überflieger und bildet sich ein, er könne auch noch ein Künstler sein. An einer Stelle sagt er, die freie Wirtschaft sei das größte Kunstwerk.
Hier steht es: »Zwischen Unternehmern und Künstlern gebe es eine Verwandtschaft des Geistes, das Experimentelle des Weltzugangs, die schöpferische Zerstörung, Schumpeter etc.« Ein bisschen habe ich solche Stellen auch als Kunstkritik gelesen. Ich halte das auch für eine Flanke gegen die Selbstüberschätzung visionärer Künstler, die sich vom Wahn der hier auftretenden Wirtschaftsleute gar nicht so sehr unterscheidet.
So sehe ich das nicht. Holtrop hat gar nichts von einem Künstler, sein Naturell ist rein finanztechnischer Art.
Nein, finanztechnisch stimmt nicht. Es gibt mehrere Stellen, an denen er sich aufregt über die Finanzbürokraten. Er will sich von diesen langweiligen Zahlenjongleuren absetzen. Für ihn sind das Stubenhocker, Miesepeter. Ihn interessiert das alles überhaupt nicht. Ihn interessiert, wie den Künstler, die große Vision. Die Vorstellung, die Welt zu beherrschen kraft seiner Gedanken und seines Charismas.
Aber die Visionen von der freien Wirtschaft, die eine Kunstform sei, erschöpfen sich in Leerformeln und Gemeinplätzen.
Ja, das sind Worthülsen. Aber Johann Holtrop ist davon überzeugt, dass er die Leute für sich einnimmt, ganz egal, was er redet. Weil er von sich selbst derart eingenommen ist. Der alte Firmenboss Assperg spricht vom »Blenden« als Symptom der Zeit, von dem Politiker genauso befallen seien wie Wirtschaftsleute, Künstler, Journalisten sowieso, sogar Philosophen. Dieser alte Assperg, der vielleicht noch Reste des ehrbaren Kaufmanns verkörpert in diesem Buch, schimpft über den Größenwahn, den Goetz als charakteristisch für die Jahre um die Jahrtausendwende beschreibt. Das Jahr 1998, in dem die rot-grüne Koalition unter Schröder und Fischer zustande kam, deren Namen im Buch genannt werden, markiert die Zeitenwende.
Ich habe den alten Assperg nicht als Gegenfigur zu Holtrop wahrgenommen. So etwas wie einen ehrbaren Kaufmann gibt es in diesem Roman nicht. Im Gegenteil, das wird als Mythos und Lüge begriffen. Es gibt überhaupt keine positiven Figuren in diesem Roman. Das tut ihm aber gut. Der bewusste Verzicht auf die feinsinnige Figurenzeichnung trifft die Gegenwart viel besser als so ein psychologisches Austarieren. Ein Gutteil des Buches sind Gesprächsszenen, die Goetz dazu dienen, diese Managertypen als empathielos und egoistisch darzustellen.
Goetz ist eben auch Dramatiker.
Und das merkt man dem Buch auch an. Abgesehen von den zwangsoptimistischen Beschwörungen Holtrops ereignet sich eigentlich jeden Tag derselbe Leerlauf. Die Mitarbeiter befinden sich in einem zermürbenden Alltag, der gar nicht ermöglicht, dass ein echtes Gespräch geführt wird. Alle Figuren sind seelisch verkümmert.
Diese Leute treten meist nur mit ihren Nachnamen in Erscheinung, wie beim Militär: Sprißler, Thewe, Holtrop. So sehr mich der Stil fasziniert hat, so unwohl habe ich mich in diesem Szenario gefühlt. Die Wirklichkeit des Romans korrespondiert überhaupt nicht mit meiner eigenen Wirklichkeit. Es ist eine abgeschottete Welt, in die unsereins normalerweise überhaupt keinen Einblick hat.
Ich habe exakt die gegenteilige Empfindung. Vieles kommt mir sehr vertraut vor. Es gibt eine Szene, in der der Bürgermeister von Schönhausen, das ist der Sitz des Assperg-Imperiums, zu einem Charity-Event der Firmenstiftung eingeladen ist und dort eine Rede hält. Er weiß, er hat es hier mit den Sponsoren und den arrivierten Industriellen des Ortes zu tun, die wichtig sind für die Wirtschaft der Stadt. Also sagt er: Schönhausen ist schön, und wir werben für Schönhausen, weil Schönhausen der Sitz dieser Firma ist. Der redet eine halbe Stunde lang und sagt nichts anderes als das. Wann immer ich in der Verlegenheit war, solchen Reden egal welches Bürgermeisters zuzuhören, war es genau so. Ich finde, der »komische Realismus«, den Goetz hier betreibt, kommt der Wirklichkeit sehr nahe. Es ist ein Ausschnitt der Wirklichkeit, der sinnbildlich für die ganze Gesellschaft steht.
Das ist ein gutes Stichwort, um auf den Untertitel zu sprechen zu kommen: »Abriss der Gesellschaft«. Offensichtlich ist er mehrdeutig. Ist die erlesene Gesellschaft gemeint, um die es hier geht, der Kreis der Manager? Oder ist es die Gesellschaft als ganze? Heißt Abriss, dass etwas kaputtgeschlagen wird? Oder will das Buch ein Abriss im Sinne einer komprimierten Zusammenfassung sein? Natürlich ist all das zusammen gemeint. Ich finde aber, dass der Titel noch eine andere Assoziation auslöst, nämlich diejenige zu Thomas Mann. Schon der Klang des Namens Johann Holtrop erinnert an eine Thomas-Mann-Figur. Und vom »Abriss der Gesellschaft« lässt sich schnell eine Verbindung herstellen zum »Buddenbrooks«-Subtitel »Verfall einer Familie«. Dem Verfall folgt der Abriss. Wo eben noch Menschen lebten und liebten - Liebe kommt in diesem Buch gar nicht vor - walten Kälte und Kahlschlag.
Der Erzähler stellt dar, dass es die Unmittelbarkeit des echten Lebens in der derzeitigen Phase unserer Gesellschaft gar nicht mehr gibt.
Du hast davon gesprochen, dass sich dieses leere, zermürbende Procedere täglich wiederholt. Gleichzeitig aber ändert sich doch etwas. Hier kollabieren nicht nur einzelne Firmen und Finanzkonstrukte, sondern die ganze Gesellschaft wird mit in den Abgrund gerissen. Goetz zeichnet ein Untergangspanorama. Das Immergleiche löst katastrophale Veränderungen aus.
Wobei ich das Ende als offen verstanden habe. Dem Leser wird der Eindruck vermittelt, dass es auch nach Holtrops Ende genau so weiter geht. Es gibt keinen Endpunkt, auf den das hinausläuft.
Vielleicht geht es zwar noch eine Weile so weiter, aber alles läuft zu auf einen schwarzen Schlund. Ich glaube, dass Rainald Goetz versucht, eine verbreitete Stimmung literarisch zu konkretisieren.
Obwohl der Erzählstil sich traditionell gibt, ist das Buch modern. Es gibt kein antagonistisches Moment, das gegen die Managertypen gesetzt wird.
Es gibt den Erzähler. Der Widerspruch zwischen der narrativen Präzision und der ungezügelten Wut, die stellenweise ausbricht, ist nicht zu übersehen. Es wird gewertet, vernichtet, geschimpft: »so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert«, »so falsch, so lächerlich, so blind gedacht« …
Es gibt zahlreiche solche Passagen, was ich sehr erholsam finde.
Aber der Reiz rührt ja daher, dass sich das mit dem kalten Erzählen beißt.
Es ist ein personaler Erzähler, der aus der Sicht verschiedener Figuren erzählt.
Nein. Es ist ein auktorialer Erzähler. Er erzählt von außen, von oben.
Ich streite nicht ab, dass es Passagen gibt, in denen Goetz sich als Erzähler einschaltet zum Zwecke der Hinrichtung dieser Figuren. Er macht sie lächerlich. Karikaturen sind sie aber trotzdem nicht. Karikatur heißt, man stellt sie verzerrt und oberflächlich dar, um sie lächerlich zu machen. Die Figuren, die Goetz als leere Idioten darstellt, sind tatsächlich leere Idioten.
Könnte sich Holtrop nicht auch völlig anders verhalten, wenn er ein anderes Individuum wäre?
Nein, er könnte sich nicht anders verhalten. Leute, die am Funktionieren eines Systems beteiligt sind, können ab einem gewissen Zeitpunkt keine bewussten, klaren, vernünftigen Entscheidungen mehr treffen, weil sie verkümmert sind. Weil sie Teil dieser Gesellschaftsformation sind, in der Menschen verkümmern.
Rainald Goetz: Johann Holtrop. Suhrkamp, 344 S., geb., 19,95 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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