Ein deutsches Archiv

Imre Kertész

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit einigen Tagen ist es nun also geöffnet: das Imre Kertész-Archiv in der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Vielleicht darf an Stefan Zweig erinnert werden, der Monate vor seinem Freitod 1942 in Brasilien schrieb, er hielte es für einen Albtraum, je wieder seine Bücher in einem »deutschen Regal« zu wissen, »und möge dieses Deutschland auch in wer weiß wie ferner Zukunft von der Pest genesen sein«. Und Alfred Döblin, nach dem Kriege: »Wenn ich jetzt meine Bücher in deutschen Bibliotheken erblicke, vermeine ich sie noch immer zittern zu sehen.«

Der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész (83), Überlebender des deutschen Konzentrationslagerwesens, gab seine Manuskripte, Tagebücher, Korrespondenzen - man kann sagen: einen Großteil seiner künstlerischen Arbeitsseele - an eine deutsche Institution. Na und? Aller Schrecken ist schließlich viele Jahrzehnte her. Ja. Und Nein!, wenn der Satz von Martin Walser stimmt: »Seit Auschwitz ist kein einziger Tag vergangen.« Ein Satz, den Walser (Kertész nennt ihn einen der »wichtigsten Gewissensforscher unserer Zeit«) zu einem seiner Lebenssätze erhob. Dieser Satz ist der Tiefgrund von Walsers Werk- und Redewahrhaftigkeit. Ist es immer gewesen. Und Walser war es auch, der den Satz sagte: »Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.« Rituale sind nötig, aber sie können genau jene Beruhigung vortäuschen, die dann plötzlich, etwa nach den Vorgängen um jüngste Nazi-Morde, katastrophal aufbricht wie eine Tapetenkulisse. Als wende sich alles vorwiegend durch mahnend feierliche Öffentlichkeit zum Besten - wo doch nach individueller Gewissensarbeit gefragt werden muss, bei der stets weniger erreicht ist als offiziell betont wird. Davor hat Walser immer gewarnt.

Wenn Deutschland nun das Land wurde, in dem drei Buchstaben, NSU, so Vieles erschütterten, dann gehört zu diesem Deutschland, zur Gegenwelt quasi, unbedingt auch die Gabe eines Imre Kertész. Sie erzählt vom Vertrauen eines durch die Hölle Gegangenen - just jetzt, da neonazistische Untaten und deren verhängnisvolles Netzkabel zum Unterstrom faschistischer Vergangenheit fatal alles Andere übersehen lässt - nämlich: auch das durchaus Schandbewusste in dieser Gesellschaft, das vielfach kämpferisch Gelebte gegen Rechts. Klar, solches Übersehen geschieht aus Sorge. Sorge ist ein Gegner des balancierten Wahrnehmens.

Imre Kertész: »Deutschland hat sich seiner Geschichte gestellt.« Der Satz stimmt so, wie seine Wahrheit jeden Tag auf der Kippe steht. Aber eben: Er stimmt. Auch. Denn trotz allem: Wir leben zwar in stets gefährdeter Staatswelt (das ist der Bitterpreis der Demokratie), aber wir leben nicht in einer weltmaßstäblich gefährlichen Gesellschaft. Und wenn man also das, was in einigen Augen nur eine akademische Marginalie bedeuten mag, mal hochrechnet: Spricht dieser Archiv-Schritt von Kertész nicht sehr für Deutschland?

In deutschen Regalen muss kein menschengutes Buch mehr zittern. Was freilich - damit es so bleibe - den Blick des Staates verschärfen möge, auf jene, die wegen bestimmter entlarvender Akten ins Zittern kommen - müssen. Ehe ein Reißwolf an ihrer Seite wieder für sie wüten kann - auch gegen das Vertrauen eines jüdisch-ungarischen Nobelpreisträgers.

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