Stawropol schafft Präzedenzfall

Bekleidungsvorschrift für Schüler in Russland

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 2 Min.
Was Schüler im südrussischen Stawropol tragen dürfen und was nicht, bestimmen ab 20. Dezember nicht mehr die Kinder und deren Eltern, sondern Vater Staat.

Die neue Bekleidungsvorschrift untersagt nicht nur Kleidung mit religiösen Attributen, darunter auch das muslimische Kopftuch, sondern auch allzu freizügige Dekolletés und Schuhe mit Absätzen, die höher als sieben Zentimeter sind. Der Erlass gilt vorerst nur im südrussischen Stawropol und stellt einen Kompromiss dar. Im Oktober hatte die Leiterin einer Grundschule im Landkreis Neftekumsk Mädchen mit muslimischem Hidschab - einem Überwurf, der Haare, Hals und Schultern bedeckt - vom Unterricht ausgeschlossen und als Kompromiss das Tragen eines Kopftuchs für orthodoxe Christinnen angeboten.

Der Vorfall sorgte landesweit für Schlagzeilen. Empörte Eltern riefen den Rat der Muftis - der höchsten islamischen Geistlichen - an, der forderte daraufhin ein Verbot von Miniröcken und hochhackigem Schuhwerk an russischen Schulen.

Sogar Präsident Wladimir Putin sah sich zum Eingreifen genötigt. Eine Lehrerin aus der Region Stawropol hatte auf einem Treffen von Aktivisten der Russischen Volksfront - Putins Hausmacht - vom Chef klare und unmissverständliche Direktiven verlangt. Putin erklärte daraufhin, religiösen Gefühlen der Menschen müsse man stets mit Achtung begegnen. Das gelte auch für den Staat. Russland sei jedoch ein weltlicher Staat. Das eigentliche Konfliktmanagement indes überließ er den Regionen. Die müssten nach konkreter Sachlage entscheiden.

Dass Stawropol nun einen Präzedenzfall schafft, ist kein Zufall. Dort zeichnen sich mit aller Schärfe schon jetzt ethnische und religiöse Konflikte ab, die langfristig die »Russländische Föderation« in Frage stellen. Bewohner der strukturschwachen nordkaukasischen Republiken, an die die Region im Süden grenzt, suchen Arbeit bei den relativ wohlhabenden Nachbarn oder pachten dort Land. Die alten Gleichgewichte - noch verfügen Russen und andere Volksgruppen wie Ukrainer und Armenier über satte Mehrheiten - verschieben sich daher mehr und mehr zugunsten der Neusiedler: Muslime mit hoher Geburtenrate, die am Brauchtum ihrer alten Heimat festhalten und dabei zwangsläufig mit der vor allem in ländlichen Gegenden sehr konservativen Werteordnung der russischen Mehrheit kollidieren.

Die indirekte Bevorzugung der Russisch-Orthodoxen Kirche als staatstragende Institution heizt den schwelenden Konflikt weiter an und verschafft radikalen Islamisten im Nordkaukasus neuen Zulauf. Mit Sorge beobachten russische Geheimdienste, wie diese Gruppierungen ihre Aktivitäten auf die Nachbarn ausdehnen.

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