Großstadt-Gesichter

»Kopf oder Zahl« - die Berliner Malerin Ellen Fuhr zeigt neue Arbeiten auf Papier

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Thema ihrer Bilder ist die Großstadt - nicht nur Berlin - als Kompressor, als Amalgam von Erfahrungen, die Stadt mit ihren Menschen und Botschaften, Symbolen und Zeichen: so viele Spuren persönlicher Erinnerungen, Nachrichten, Zusammentreffen, Hoffnungen und Enttäuschungen, die Stadt, die viele Transaktionsgewebe in jedem Augenblick des Tages und der Nacht erneuert, so wie eine Schlange sich häutet und die Prägungen ihrer abgeworfenen Haut zurücklässt. Die Stadt wird zur Bühne, und ihr überdimensionierter Tiefenraum scheint aus surrealistischen Bildern entnommen zu sein, ein Ort, wo unvereinbare Dinge in einem klaren oder trüben Licht zusammenkommen können. »Alexanderplatz (Unterführung)« (Mischtechnik, 2008) - ein Labyrinth von Treppen, Durchgängen, Glas- und Stahlkonstruktionen, Köpfen, Gebäudefassaden und auch Schriftfragmenten, die Punkte von lesbarer Wirklichkeit in das Fließen der Materialien hineinbringen sollen (»Alex …«, »S«). »Treppen Gesundbrunnen« (2011) - ein Gestrebe von Brückenelementen, Auf- und Abgängen, Engführungen, Schriftsignalen mit einem ausschnitthaften Stadthintergrund. »Schönhauser Allee« (2012) - der Blick fällt von einer erhöhten Position (von einem Balkon oder aus einem Fenster) auf die einem Fluchtpunkt zustrebende Straße mit ihren Häuserfronten.

Perspektivisch sich öffnende und sich dann wieder verengende Fluchten, Elemente der Großstadt-Architektur, kühne und wuchtige Konstruktionen, Straßenszenen, S- und U-Bahnhöfe als Durchgangsstationen, alles urbane Zeichen mit Symbolen, werden konfrontiert mit eiligen anonymen Menschen, träumenden, hoffenden, suchenden Gesichtern, ihr Inneres nicht preisgebenden Masken. »Meine Stadtbilder sind romantisch in dem Sinne, als sie, zwar von realen Orten und Anlässen ausgehend, Projektionen sind, erdachte Räume, in die ich meine Erlebnisse und Gedanken verlagere, in denen ich sie aufzeichne wie in einem Tagebuch«, sagt Ellen Fuhr. Sie bedient sich der Vergänglichkeits-Allegorien des Barock und fügt mal die Uhr, das Stundenglas, das Quantenpendel, einen Totenkopf, das menschliche Auge, dann wieder eine zerplatzende Seifenblase, eine stehengebliebene Kaffeetasse oder Zeugnisse des Schach-, Karten- und Würfelspiels in ihre Kompositionen ein. Das Spiel - das Spiel des Lebens - gibt das Wechselspiel von Zufall und Gesetz an, im Spiel kann Zufall Glück oder Unglück heißen. Der Würfel ist das Symbol für Glück und Schicksal, und die Kugel der Fortuna kann alles oder nichts bedeuten. Das sind Allegorien der Unbeständigkeit, Großstadt-Allegorien, Signale, die zum Nachdenken, zur Rückschau wie Vorausschau anregen sollen.

Dieses lockere Verknüpfen einer Reihe von assoziativen Bildern um ein Zentralthema findet sich auch in solchen stilllebenhaften Arbeiten wie »Seifenblase und Zufall« (2010/12) »Scherzo mit Eule«, »Kartenspiel mit Maske«, »Schwarzer Kopf mit Maske« (alle Mischtechnik, 2012). Die Gegenstände und Bilder sind zu »Zeichen« eines visuellen Vokabulars geworden, frei von einer festen oder vordefinierten Bedeutung, jedoch fähig, ihre Wertigkeit entsprechend den beim Betrachter hervorgerufenen Assoziationen zu erhalten und zu verändern. Denn ein Ding vermag durch sein Vorhandensein die Bedeutung eines anderen zu verändern, und so läuft durch die Bilder von Ellen Fuhr eine Kette von sich summierenden Bedeutungen. Man gerät ins Grübeln, denkt über die Bilder und sich selbst nach.

Bis 31. Januar, Galerie der Berliner Graphikpresse, Friedrichshain, Silvio-Meier-Str. 6 (früher: Gabelsbergerstr.), Mi.-Fr. 13-19 Uhr, Sa 11-15 Uhr, bis 8.1. geschlossen

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