Mythen und Moderne

Kai Vogelsang präsentiert eine neue Geschichte Chinas

  • Wolfram Adolphi
  • Lesedauer: 4 Min.

Die »Fünfte Generation« tritt an die Spitze der Gongchandang, der Kommunistischen Partei Chinas, und der Volksrepublik. Da kommt ein neuerlicher Überblick über Chinas Geschichte gerade recht. Kai Vogelsang, Jahrgang 1969, Professor für Sinologie an der Universität Hamburg, hat ihn verfasst. Entstanden ist ein Buch, das zunächst einmal wirklich schön ist: geschmackvoller Schutzumschlag, gediegener Druck, perfekte Einfügung von Fotos, Faksimiles und Landkarten. Es macht Freude, den Band in die Hand zu nehmen. Und der gute Eindruck verstärkt sich beim Lesen. Da gibt es nicht nur die klassische Chronologie, sondern - durch senkrechte Balken hervorgehoben - auch Einschübe zu einzelnen Stichworten. Und der Text liest sich unterhaltsam.

Überraschende Sichtwinkel werden eröffnet. So, wenn im ersten - die Periode vom 8. Jahrtausend bis zum 13. Jahrhundert v. u. Z. umfassenden - Kapitel »Mythen und Vorgeschichte« archäologische Funde vorgestellt und interpretiert werden. Das zweite Kapitel beleuchtet die eigentliche Geburt Chinas, die Zeit vom 13. bis 6. Jahrhundert v. u. Z. Auf die Darstellung des Reichs der Zhou folgt ein Einschub »Klimageschichte«. Da heißt es: »Die Anfänge der Kultur in China fielen nicht zufällig in eine Wärmeperiode, in der die Durchschnittstemperaturen etwa 2° C höher lagen als heute.« Um 900 v. u. Z. jedoch soll der Yangzi zweimal gefroren sein - und kurz darauf wurden die Zhou von einem Steppenvolk besiegt. Vogelsang sieht die Triumphe der nördlichen Nachbarn bis hin zum »Mongolensturm« im 13. Jahrhundert und die Errichtung der Qing-Dynastie durch die Manzhou 1644 mit längeren Kälteeinbrüchen verbunden. Daraus schließt er, dass »längst nicht alles in der Geschichte durch menschliches Tun zu erklären« sei.

Weitere Stichwort-Einschübe berichten über die Sprache, Aberglaube, Kaiser, Geschichtsschreibung, Erfindungen, die Seidenstraßen, Papier, Städte, Recht, Tee, Tibet und Tribut, natürlich auch über Opiumanbau und Opiumkrieg, über den »Langen Marsch« nach Yan’an usw. Im Einschub »Frauen« - platziert schon im Abschnitt über die Kaiserin Wu im Kapitel »Das chinesische Mittelalter (25-755)« - huldigt Vogelsang den Frauen Nordchinas, die in dieser Zeit »frei, selbstbewusst und energisch« gewesen seien. Sodann spannt er den Bogen über die 4.-Mai-Bewegung von 1919, die das Ziel verfolgte, die Frauen vom Joch der konfuzianischen Moral zu befreien, hin zur Gründung der Volksrepublik, in der »die Gleichstellung der Frau endgültig im Gesetz verankert« wurde und die Frauen »die Hälfte des Himmels« tragen sollten - »was allerdings vor allem harte Arbeit in Industrie und Landwirtschaft bedeutete«. Heute seien einerseits viele Frauen in Führungspositionen etabliert, würden als Sport- und Filmstars verehrt oder prägten als Journalistinnen und Schriftstellerinnen die öffentliche Meinung. Andererseits aber herrsche wegen der Bestimmungen zur Ein-Kind-Familie ein durch »selektive Abtreibungen und Kindesmord« herbei geführter eklatanter Männerüberschuss, der China in den nächsten Jahrzehnten noch »große Probleme« bereiten werde.

Auffällig ist, dass sich Vogelsang in seiner Chronologie über gängige Zäsuren hinweg setzt. Gilt gemeinhin das Jahr 1644 mit dem Untergang der Ming- und der Errichtung der »fremdherrschaftlichen« Qing-Dynastie als tiefster Einschnitt, so findet sich diese Umbruch hier unspektakulär eingefügt in andere, vom Autor als übergreifend dargestellte Entwicklungen. Und auch das Jahr 1949 mit der Gründung der Volksrepublik gilt Vogelsang nicht als zentrale Zäsur, sondern eher als eine Art Wegmarke. Das fordert zum Widerspruch heraus - wie auch einige Wertungen in den beiden letzten Kapiteln. Den Zweiten Weltkrieg, der aus chinesischer Sicht bereits 1931 begann, und den Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 auf insgesamt nur viereinhalb Seiten abzuhandeln und dabei Weltkonstellationen wie die Antikomintern-Achse Berlin-Tokio und den Eintritt Tschiang Kaischeks in die Anti-Hitler-Koalition unerwähnt zu lassen, wird deren Bedeutung in keiner Weise gerecht. Ausgeblendet bleibt bei Vogelsang auch die Wechselwirkung zwischen den Revolutionen in Russland 1905 und in China 1911 sowie der Oktoberrevolution in Russland 1917 und den chinesischen Ereignissen 1925 bis 1927, deren sich chinesische Revolutionäre wie Li Dazhao und Sun Yatsen sehr wohl bewusst waren. Auch einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und dem Sieg Maos und seiner Mitstreiter 1949 will Vogelsang nicht erkennen.

Ärgerlich schließlich ist die Behauptung, wonach »der Westen« von China nichts gewusst habe oder haben könne. »Yan’an galt als friedliches Idyll, die Hungersnot von 1959-1961 blieb völlig unbemerkt, die Kulturrevolution wurde nichtsahnend romantisiert.« Das stimmt einfach nicht. Hier wäre ein genauerer Blick in die zeitgenössische Literatur in den USA, in Japan und in der Bundesrepublik wie auch in der Sowjetunion und der DDR angezeigt gewesen.

Auf den letzten Seiten seines Buches bietet Vogelsang unter der Überschrift »Schneller, höher, stärker: die kommende Weltmacht« gängige, oberflächliche Analysen, wie sie häufig in deutschen Mainstream-Magazinen zu finden sind. Das aber ist zu schwach für die von Vogelsang selbst formulierte Hoffnung, dass »das Ausland China in seiner ganzen Vielfalt und Komplexität angemessen würdigt«.

Kai Vogelsang: Geschichte Chinas. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart. 646 S., geb., 39,95 €.

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