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Henker, Gestapo und Judenmord

Die Kritik eines deutschen Heeresrichters an das NS-Regime

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Hatten Wehrmachtssoldaten Kenntnis vom Holocaust? Konnten sie im Krieg zwischen Wahrheit und Propaganda unterscheiden? Nein, sagten viele Kriegsteilnehmer. Doch, behaupten Historiker. Das jüngst veröffentlichte Tagebuch eines Militärrichters gibt letzteren recht. Schon das Zitat im Titel sagt viel: »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert.«

Werner Otto Müller-Hill, geboren 1885 in Freiburg als Sohn eines Ingenieurs, war bereits im Ersten Weltkrieg Heeresrichter. In der Weimarer Republik praktizierte er als Anwalt. Den Nazis gegenüber blieb er auf Distanz, er wurde nicht Mitglied der NSDAP, war aber auch kein Opponent des Hitlerregimes. Ab 1940 war er erneut Richter in Uniform, Feldkriegsgerichtsrat der Reserve, seit 1942 in Straßburg stationiert.

Seine Kollegen fällten 30 000 Todesurteile, 20 000 wurden vollstreckt - an Deserteuren, Kriegsdienstverweigerern und »Wehrkraftzersetzern«. Müller-Hill gehörte offensichtlich nicht zu diesen Blutrichtern. Nach Kriegsende galt er als unbelastet. Er wurde Beamter in Baden, 1949 Oberstaatsanwalt, ein Jahr später pensioniert. 1977 ist er mit über 90 Jahren gestorben.

Das Tagebuch, handschriftlich geführt, beginnt Ende März 1944 und reicht bis in die ersten Wochen nach der Kapitulation Deutschlands. Müller-Hill führte es unter Lebensgefahr; er weiß, was ihn bei dessen Entdeckung drohen kann: »völlige Auslöschung«. Warum schreibt er? Um Zeugnis abzulegen, von seinem Denken und Fühlen und von der Zeit. Der Jurist glaubt, in der Wehrmacht gebe es »viele anständige Menschen«. Das NS-System hingegen nennt er »elendste Tyrannis«. »Armes, armes Deutschland!«, so klagt er an einem Sonntag, um sodann über die »Führungsclique« zu schimpfen, »diese Verbrecher«, die Millionen »guter deutscher Soldaten« geopfert habe. »Henker, Gestapo und Judenmord im größten Maßstab« ist für ihn das Wesen des Regimes, das Goebbels großaufgezogene Propaganda nicht zu verschleiern vermag. Die Vernichtungslager empfindet er als abscheulich, aber nicht aus Mitgefühl für die Opfer, sondern: Massenmorde seien »unheldisch, unmilitärisch und absolut undeutsch«.

Am 21. Juli 1944 notiert Müller-Hill: »Das Unglaubliche ist geschehen: Auf H. wurde ein Anschlag verübt.« Das Attentat des Claus Schenk Graf von Stauffenberg kommentiert er mit dem Lob »fabelhaft« und: »Hut ab!«

Über das Kriegsende macht sich der Richter schon im September 1944 keine Illusionen mehr. »Das Ende ist klar gezeichnet: die komplette Niederlage!« Müller-Hill fürchtet, was danach kommen könnte: die flächendeckend rasche Verdrängung jeder braunen Schuld. Das war wahrlich prophetisch.

Nein, zum Helden taugt dieser Jurist nicht. Und doch sind seine Notizen ein aufschlussreiches Zeugnis über eine Zeit, die nicht vergeht.

Werner Otto Müller-Hill: »Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert«. Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/1945. Mit einem Nachwort von Wolfram Wette. Siedler Verlag, Berlin. 176 S., geb., 19,99 €.

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