Pfarrer Grüber war ungeheuer mutig
Marianne Kaufhold erfuhr in mörderischer Zeit christliche Nächstenliebe
Ich bin Halbjüdin, eine geborene Lewy; mein Vater war also der jüdische Teil. Meine Mutter war evangelisch, ist aber der jüdischen Religion nach der Heirat beigetreten. Meine Eltern waren nicht streng religiös, pflegten aber die jüdischen Bräuche, die jüdische Kultur. Ich erinnere mich: Jeden Freitag war Schabbes. Und wir feierten Schevat, das jüdische Neujahrsfest.
Eingeschult wurde ich in die Volksschule in der Gotenburgerstraße im Berliner Wedding. 1938 wurden alle jüdischen Kinder der öffentlichen Schulen verwiesen. Auch ich.
Mit den Lehrern habe ich sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Bei manchen hatte ich das Gefühl, sie waren mir gegenüber aus Mitleid besonders nett. Aber unser Klassenlehrer war ein strammer Nazi, er forderte eiserne Disziplin. Wir mussten still sitzen wie Puppen. Und er hat jede Gelegenheit genutzt, mich herabzusetzen. Kurz bevor ich von der Schule flog, wurde ich beschuldigt, abgeschrieben zu haben. Das stimmte nicht. Ich kam an jenem Tag erst zur zweiten Stunde; die erste Stunde, christlicher Religionsunterricht, brauchte ich nicht zu besuchen. Als ich mich auf meinen Platz setzte, hörte ich hinter mir ein Mädchen sagen: »Au weia Lewy, was du gemacht hast!« Der Klassenlehrer hatte offenbar meine Mitschüler vorher gegen mich eingeschworen. Er stellte mich zur Rede. Wie sollte ich eine Lüge widerlegen? Ich war elf. Egal was ich sagte, er unterbrach mich ständig. Ich war verwirrt und stotterte, wurde wohl auch rot im Gesicht. Da trug er ins Klassenbuch ein: »Lewy lügt und betrügt.« Und der Klasse sagte er: »Da seht ihr mal: Ein deutsches Mädchen würde so etwas nicht machen.« Ich war also kein deutsches Mädchen. Man war entweder Deutscher oder Jude; deutsche Juden gab es nicht.
Ich musste mitten im Unterricht die Klasse verlassen Zu Hause heulte ich mich aus. Meine Mutter wusste auch nicht, wo ihr der Kopf stand. Seit dem Tod meines Vaters 1936 musste sie das Geschäft für Herrenartikel in der Badstraße, das mein Vater von seinen Eltern übernommen hatte, allein betreiben. In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurden bei uns die Scheiben nicht eingeschlagen, das Geschäft nicht geplündert wie bei vielen anderen jüdischen Geschäftsinhabern. Aber unser Laden wurde mehrmals beschmiert. Wir hatten Mühe, das immer wieder abzuwaschen. Auf dem Trottoir vor dem Geschäft schrieb jemand in großen Lettern mit Ölfarbe das Wort »Jude«. Das ging nicht ab, war noch Jahre zu sehen.
Meine Mutter hat versucht, mir über Bekannte Privatunterricht zu vermitteln. Schließlich erfuhren wir, dass der evangelische Pfarrer Heinrich Grüber in der Oranienburger Straße 20 eine private Schule gegründet hat - für Juden und Mischlinge. Sie nannte sich »Familienschule für nichtarische Christen«. Ich bin dann aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten. Damit wurde ich offiziell anerkannt als »Mischling 1. Grades«.
In Grübers Schule kamen Jungen und Mädchen aus ganz Berlin zusammen. Das war schon mal sehr spannend, mit Jungs in einer Klasse. Damals gab es ja noch nach Geschlechtern getrennten Unterricht. Ich habe mich von Anfang an in Grübers Schule wohlgefühlt. Wir Kinder verstanden uns prächtig. Natürlich haben wir uns auch gezankt, dann aber wieder vertragen. Wir waren ganz normale Kinder, spielten Streiche und schlugen manchmal über die Stränge. Die Lehrer waren auch alles Verfolgte. Die meisten sind später deportiert und umgebracht worden.
Wir hatten Unterricht in allen Fächern, außer Sport, denn wir hatten keine Turnhalle. Pfarrer Grüber hatte ein zweistöckiges Haus aus Privatbesitz gemietet. Wir konnten hier zwei Räume nutzen - einen großen Parterre und einen kleineren in der ersten Etage. In den großen Raum zog der Vater einer Freundin zwei Wände ein, so dass wir insgesamt vier Klassenräume hatten. Wir wurden gemahnt, leise zu sein, keinen Krach zu machen. Wenn wir ein kleines Stück aufführten, durfte nicht geklatscht werden. Denn die Welt draußen war uns feindlich gesinnt.
Einmal ging ich mit einer Freundin und einem Jungen aus unserer Schule die Oranienburger entlang. Der Junge trug den Stern, meine Freundin hätte auch einen tragen müssen. Plötzlich stürzte ein Mann auf uns zu, platzte bald vor Wut und brüllte uns Mädchen an: »Seid ihr auch Juden?« Nach einer Schrecksekunde stiebten wir nach allen Seiten davon. Ich war 14. Und ich hatte den Eindruck, dass die nichtjüdischen Deutschen das alles voll mittrugen. Bis auf einige Ausnahmen, wie Pfarrer Grüber. Er war ungeheuer mutig. Schon bevor er unsere Schule gründete, verhalf er Juden zur Ausreise. Er gehörte dem Pfarrernotbund und der Bekennenden Kirche an und war mit Martin Niemöller befreundet. Das erfuhr ich natürlich erst sehr viel später, nach dem Krieg. Während die Leitungen der evangelischen Kirchen ihren als Juden verfolgten Mitgliedern mehrheitlich die Hilfe versagten, rief er mit seiner Frau Margarete und Pfarrer Werner Sylten die »Hilfsstelle für nichtarische Christen« ins Leben. In seinen Gottesdiensten prangerte er den Antisemitismus und das Euthanasie-Programm der Nazis an. Er wurde mehrfach verhaftet, letztmalig im Dezember 1940. Er kam nach Sachsenhausen und dann nach Dachau. Er überlebte mit knapper Not und Mühe.
Seine Verhaftung bedeutete auch das Aus für unsere Schule. Und wieder stand ich da. Als »Mischling 1. Grades« konnte ich dann aber doch noch eine reguläre Mittelschule besuchen. Das war entsetzlich. Ein einziger Alb. Das hatte bereits in schneidigen Worten die Direktorin der Schule meiner Mutter angekündigt: »Wir sind eine streng nationalsozialistisch ausgerichtete Schule. Ihre Tochter wird sich bei uns nicht wohlfühlen.« Sie riet scharf ab, mich anzumelden. Aber meine Mutter tat es trotzdem, damit ich einen Abschluss und danach eine Lehrstelle bekäme.
Ich hatte noch Glück in unglücklicher Zeit. Was für Demütigungen mussten Juden erleiden! Sie durften öffentliche Verkehrsmittel nur benutzen, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich habe erlebt, wie ein Mann mit Stern in der Straßenbahn angeschnauzt wurde: »Was machst du denn hier?« Juden wurden geduzt. Da sagte er: »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, hier ist meine Arbeitsbescheinigung.« Das interessierte den anderen nicht: »Du steigst aus!« Da musste der Jude aussteigen. Manche Menschen schauten peinlich berührt weg, wenn so etwas öffentlich passierte. Andere amüsierten sich. Und wieder andere beteiligten sich daran, wehrlose Menschen zu drangsalieren.
In der DDR habe ich dann als Lektorin im Verlag Das Neue Berlin gearbeitet. Zu meinen Autoren gehörte Friedrich Karl Kaul. Als Hitler an die Macht kam, durfte er sein zweites juristisches Staatsexamen nicht mehr ablegen, wurde als Jude und Kommunist in Dachau eingesperrt, konnte dann aber emigrieren. Er war einer der wenigen Anwälte, die nach dem Krieg von allen Alliierten für ganz Deutschland zugelassen waren. Er war Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess und im Treblinka-Prozess. Als Lektorin hatte man es nicht leicht mit ihm. Er war immer in Eile. Er hatte hochinteressante Fälle anzubieten, aber sich keine Zeit genommen, sie in Ruhe aufzuschreiben. Er hat mindestens für vier gearbeitet und war viel im Ausland unterwegs. Wenn wir ein Manuskript zu besprechen hatten, ging er mit mir essen. Ich musste mich beeilen, zu sagen, was ich sagen wollte. Aber wir kamen letztlich stets sehr gut zurecht.
Besonders stolz bin ich auf unsere Georg-Herrmann-Ausgabe. Mein Mann - er hat Philosophie studiert - war dafür verantwortlich. Herrmann, der eigentlich Borchardt hieß, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Bestseller-Autor. Er schrieb über die kleinen Leute, das alte Berlin: »Jettchen Gebert«, »Henriette Jacoby«, »Kubinke«. Man nannte ihn den »jüdischen Fontane«. Sein Bruder war der Archäologe Ludwig Borchardt, der die Nofretete fand. Nach dem Reichstagsbrand floh Georg Herrmann nach Holland. Seine Tochter wollte, dass er zu ihr nach Dänemark kommt. Aber er war schon Mitte 70, hatte nicht mehr die Kraft weiter zu fliehen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde er über Westerbork nach Auschwitz deportiert, wo er 1943 starb. Wir hatten zu seiner Tochter Hilde Hansen ein enges, freundschaftliches Verhältnis. Aus Dank für unsere Bemühungen um das Werk ihres Vaters schenkte sie mir eine mehrbändige, in Leder gebundene Ausgabe letzter Hand von Goethe aus dem Jahr 1829. Sie stammt aus der Bibliothek des deutschen Juden Georg Herrmann.
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