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Schreiben heißt Verstehen

Siegfried Lenz: »Amerikanisches Tagebuch 1962«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

In einer editorischen Notiz zu diesem Text heißt es, dass das »Amerikanische Tagebuch« von 1962 das einzige überhaupt des Schriftstellers Siegfried Lenz sei. Und in einem kurzen, fünfzig Jahre später geschriebenen Vorwort zur Edition bemerkt der Autor zum Hintergrund seiner Aufzeichnungen, dass es Erfahrungen gebe, »die nicht dem Vergessen anheim fallen sollten«. Darunter versteht er vor allem »ein Gefühl großer Dankbarkeit. Was ich im Kopf und im Herzen trug, offenbarte sich als ein besonderes, ein unverlierbares Geschenk.«

Auf Einladung des amerikanischen Botschafters in der BRD reist der 35-jährige, schon längst bekannte Schriftsteller Siegfried Lenz Mitte Oktober 1962 in die USA, für rund sechs Wochen. Er war voller Bewunderung für das Land, gehörte er doch zu jener Generation, die das Ende des Faschismus nicht zuletzt als Befreiung durch die USA erlebte. Von Hamburg fliegt er zunächst nach Washington und an die Ostküste, dann nach Denver und Laramie, San Francisco, Houston, New Orleans und von dort über New York wieder zurück nach Deutschland.

Auf seiner Reise kommt er an etliche Universitäten, trifft Germanisten, Schriftsteller und Künstler und wird überall zuvorkommend und freundlich empfangen - auf eine Art freilich, die ihn schon früh in seinem Tagebuch zu der Reflexion veranlasst, ob sich nicht dahinter so etwas wie die permanente Angst vor der Einsamkeit und dem Alleinsein verberge. Ja, in einem Washingtoner Drugstore glaubt er »die Wortlosigkeit, die Einsamkeit der amerikanischen Männer« zu spüren. Offenkundig ist das die Kehrseite dieser offenen, lärmenden, um dauernde Freundlich- und Zuvorkommenheit bemühten Bevölkerung; einer Bevölkerung aber auch, die der Bewunderer Lenz - der bekanntlich Anglistik studiert und die amerikanischen Autoren Hemingway und Faulkner als große Vorbilder empfunden hat - als tief gespalten wahrnimmt.

Überall schwelen Rassenkonflikte. Das Land, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise 1962, scheint sich für einen Krieg zu rüsten. Hinzu kommt, wie Lenz nach einem Dinner in San Francisco irritiert feststellt, dass »alle Familien, die ich an diesem Abend kennenlernte ... von einer Rückkehr nach Europa« träumen.

Gewiss begegnet man in diesem Text traditionellen Stereotypen der Wahrnehmung, merkt man bisweilen die Flüchtigkeit der Notate, die der Autor schnell abends aufs Papier gebracht hat, zugleich aber vermitteln die Aufzeichnungen einen gelungenen historischen Einblick in die amerikanische Politik, Kultur und auch Mentalität am Beginn der 60er Jahre - also noch vor Vietnam, den Studentenbewegungen und dem Umbruch Ende des Jahrzehnts.

Anlässlich eines der zahllosen Abendessen und ebenso zahlloser, zum Teil belangloser Gespräche, mit einem großen »Palaver über die Möglichkeiten des Schriftstellers«, hält Lenz fest: »Ich ließ mich nicht von meiner Überzeugung abbringen, dass Schreiben vor allem verstehen heißt, oder doch verstehen lernen.«

Siegfried Lenz: Amerikanisches Tagebuch 1962. Hoffmann und Campe, 240 S., geb., , 19,99 €.

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