Vom Chaos zur Revolte

Warum sich manche Ideen in der Gesellschaft rasch, andere mühsam oder gar nicht verbreiten

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Nichts ist launischer als die Mode. Das gilt für die Kleidung ebenso wie für die Sprache, deren Wörter häufig einem überraschenden Bedeutungswandel unterliegen. Nehmen wir nur das Adjektiv »geil«, das noch im 16. Jahrhundert soviel wie »übermütig« oder »lustvoll« bedeutete und frei war von obszönem Beigeschmack. Ein solcher wurde ihm erst im prüden 19. Jahrhundert verliehen. Als Ausdruck für ein unbotmäßiges sexuelles Verlangen geriet »geil« zu einem Tabuwort und wurde aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verbannt. Dass es dorthin zurückkehren könnte, hätte damals wohl niemand vermutet. Aber genau das ist geschehen: Seit Jahren wird das einst verpönte Wort vor allem von Jugendlichen benutzt, um etwas Tolles und Aufregendes zu bezeichnen: geiler Typ, geile Musik. 2002 fand es sogar Eingang in die Werbung: »Geiz ist geil!«

Diesem Beispiel ließen sich mühelos weitere hinzufügen. Das heißt, im Zuge der Geschichte haben zahlreiche Wörter ihre Bedeutung gewechselt, ohne dass dies von irgendeiner Instanz gezielt veranlasst worden wäre. Zwar haben die Medien im geschilderten Fall maßgeblich dazu beigetragen, das Wörtchen »geil« zu verbreiten. Erfinder der neuen Sprachmode waren sie jedoch nicht. Diese entstand, wie Nachforschungen ergeben haben, bereits vor über 40 Jahren in einer jugendlichen Subkultur und diente anfangs dem Zweck, die »spießige Mehrheitsgesellschaft« zu provozieren. Da jene Jugendlichen aber regelmäßig Musik- und Lifestylesendungen konsumierten, wurde das Tabuwort dort aufgegriffen und schließlich salonfähig gemacht.

Was für Wörter gilt, gilt auch für Produkte, Ideen und Verhaltensweisen. Allerdings vermag sich nicht jede modische Neuerung langfristig durchzusetzen. Die meisten verschwinden nach einiger Zeit sang- und klanglos wieder. Warum ist das so? Und welcher Dynamik unterliegen solche Prozesse? Der amerikanische Historiker und Publizist Malcolm Gladwell hat darauf eine verblüffende Antwort gefunden: »Ideen und Produkte, Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich in der Gesellschaft wie Viren.« Wie aber verbreiten sich diese? Dafür gibt es in der Medizin zwei grundlegende Modelle. Eines geht von der Voraussetzung aus, dass die Viren entweder wenig ansteckend sind, oder dass die Menschen, die mit den Viren in Kontakt kommen, mehrheitlich über eine schlagkräftige Immunabwehr verfügen. In beiden Fällen beschreibt die Zahl der Neuinfektionen eine glockenähnliche Kurve: Sie steigt zunächst stetig an, erreicht relativ rasch ihren Scheitelpunkt und fällt danach wieder ab.

Auch im Sozialleben lassen sich zahllose Prozesse finden, die einer ähnlichen Kurve folgen. Denken wir nur an Werbe- oder Wahlkampagnen, deren Botschaften häufig so wenig überzeugend, sprich ansteckend sind, dass sie von den meisten Menschen alsbald wieder vergessen werden. Heute Top, morgen Flop. Dieses Motto unserer Wegwerfgesellschaft gilt für technische Produkte ebenso wie für TV-Sendungen oder »Showstars«, die als solche selbst in den Privatmedien oftmals nur ein kurzes Dasein fristen.

Ganz anders entwickeln sich die Dinge, wenn man voraussetzt, dass ein Virus hochansteckend und die Immunabwehr vieler Menschen nachhaltig geschwächt ist. Hier kommt es in der Regel zu einer sich rasch ausbreitenden Epidemie. Das heißt: Die Kurve, welche die Zahl der Neuinfektionen beschreibt, schert nach einem weniger dramatischen Verlauf an einem Punkt, den man »Tipping Point« nennt, plötzlich steil nach oben aus. Eine solche Dynamik, meint Gladwell, sei auch für »soziale Epidemien« kennzeichnend. Allerdings würden dabei nicht Viren, sondern neue Produkte, Ideen oder Verhaltensweisen verbreitet. Zur Illustration mag hier das Faxgerät dienen, das der Siemens-Ingenieur Rudolf Hell bereits 1956 erfunden hatte. Zunächst fanden sich dafür in der Wirtschaft aber kaum Interessenten. Denn die Herstellung eines solchen Gerätes war teuer und seine Anschaffung vielerorts nutzlos, da bis in die frühen 80er Jahre nur wenige ein Fax besaßen. Erst 1984 nahm die japanische Firma Sharp den Preisverfall in der Elektronikindustrie zum Anlass, um ein relativ günstiges Faxgerät zu produzieren, von dem noch im selben Jahr über 80 000 Stück verkauft wurden. In den folgenden Jahren stieg der Absatz von Faxgeräten kontinuierlich an und erreichte 1987 den Tipping Point. Nun besaßen so viele Menschen ein Fax, dass sich dessen Anschaffung auch für andere lohnte. Um die Jahrtausendwende waren weltweit über 20 Millionen Faxgeräte in Betrieb. Dann jedoch stagnierte die Kurve, da immer mehr Menschen dazu übergingen, Informationen und Texte per E-Mail zu versenden.

Natürlich kann niemand mit Gewissheit voraussagen, ob sich ein neues Konsumprodukt in der Gesellschaft epidemieartig verbreiten wird. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass namentlich im kulturellen Bereich neue Trends den Tipping Point häufig dann erreichen, wenn sie ein hohes Provokationspotenzial besitzen und gegen die Macht der etablierten Kulturszene gerichtet sind. Oder, um es erneut in medizinischen Begriffen auszudrücken: Gegen ein bekanntes Virus wird ein Organismus auf Dauer immun, während ein neuer, unbekannter Erreger die körpereigene Abwehr nicht selten überfordert. Diese Erfahrung mussten im übertragenen Sinn auch zahlreiche DDR-Kulturfunktionäre machen, die in den 60er Jahren vergeblich versuchten, mit der, wie Walter Ulbricht sagte, »Monotonie des Yeah,Yeah, Yeah und wie das alles heißt«, Schluss zu machen. Doch Beat- und Rockmusik erwiesen sich als dermaßen ansteckende »Erreger«, dass sie mühelos die Mauer überwanden und im Osten flächendeckend rezipiert wurden. Zwar entstand in der Folge eine anspruchsvolle DDR-eigene Rockmusik, der aber von Anbeginn der Makel des Verordneten anhaftete. Erst nach der Wende, als niemand mehr »von oben« den Musikgeschmack bestimmte, wurde Ostrock zum Kult. Denn er symbolisierte nun eine Gesellschaft, die der Westen im Nachhinein auch kulturell zu delegitimieren versuchte.

Überhaupt fällt auf, dass anders als bei einer echten Epidemie, die gewöhnlich nach einer gewissen Zeit restlos abklingt, die Verbreitungskurven für Produkte und Ideen nach dem Überschreiten des Tipping Points nicht wieder gegen Null streben. Sie pegeln sich vielmehr langfristig auf einem vergleichsweise hohen Niveau ein und gewährleisten dadurch die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft. So sind heute bekanntlich weder Dixieland noch Country-Rock besonders trendy, ebenso wenig wie Indianerfilme, Schlaghosen oder Zauberwürfel. Dennoch finden sich für all diese Dinge treue Anhänger, die mitunter nach Millionen zählen. Und selbstverständlich gehen Menschen auch weiterhin ins Kino und schreiben Briefe, obwohl es für sie bequemer wäre, sich vor den Fernseher zu setzen und eine SMS zu verschicken.

Eine weitere Besonderheit soziokultureller Neuerungen besteht darin, dass diese häufig von nur wenigen Menschen ausgehen, die mit viel Energie und Begeisterung auch andere von ihren Ideen zu überzeugen versuchen. Wobei das, was in der Medizin die körperliche Ansteckung bewirkt, in der Gesellschaft durch bewusste oder unbewusste Nachahmung realisiert wird. Normalerweise setzen sich neue Trends zunächst in kleinen Gruppen durch und verharren dort für eine unbestimmte Zeit. Sie bilden damit gewissermaßen die »kulturellen Reserven« einer Gesellschaft, die erst dann eine Chance haben, aus ihren Nischen zu entweichen, wenn die sozialen Verhältnisse instabil beziehungsweise chaotisch geworden sind.

Das zeigt sich deutlich am Beispiel die 68er-Bewegung, die zwar viele ihrer politischen Ziele verfehlt hat, der es aber dennoch gelungen ist, die autoritären und patriarchalischen Sozialstrukturen der alten Bundesrepublik umzustürzen. Diese wurden vielerorts durch alternative Lebensstilentwürfe ersetzt, die man jedoch schon vor 1968 in verschiedenen »Subkulturen« erprobt hatte. Seit 1961 gab es die Pille auf Rezept . 1962 erfand Mary Quant den Minirock und befreite die Mode aus verstaubten Konventionen. Auch die Beatkultur setzte neue ästhetische und moralische Maßstäbe. Die Frauenbewegung begann sich zu formieren, und in Berlin gründeten Studenten die ersten Wohngemeinschaften. All dies spielte sich in den Randzonen der Gesellschaft ab. Und das wäre vermutlich so geblieben, hätte der historisch belasteten und verunsicherten älteren Generation letztlich nicht die Kraft gefehlt, das »Virus« der Revolte abzuwehren, von der wir bis heute profitieren.

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