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  • »Ego - Das Spiel des Lebens«

Kalter Krieg 2.0

Frank Schirrmacher warnt vor der Automatisierung des Menschen

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn ein Rauchmelder Alarm auslöst, obgleich kein Mensch Anzeichen eines Brandes ausmachen kann, ist das Gerät entweder defekt - oder es funktioniert, was seine Aufgabe wäre, besser als die Sinne der Anwesenden. Frank Schirrmacher, der in seinem Buch »Ego« vor dem »ökonomischen Imperialismus« warnt, ist keine Maschine. Vielleicht halten ihn deshalb einige Kritiker von vornherein für kaputt. Statt sich zu fragen, was dran sein könnte an der These von den Algorithmen, die nicht nur Märkte und Staaten, sondern auch menschliche Individuen und ganze Gesellschaften zu seelenlosen Apparaten umbauen, demontieren sie das Warnsystem Schirrmacher als solches.

Weil er offenkundig Fehler macht - grammatikalische, stilistische, interpretatorische -, könne man seinen »Alarmismus« nicht ernst nehmen, sagen die einen. Nicht Rauchmelder, sondern Nebelmaschine sei er, schimpfen die anderen, ein von Eitelkeit getriebener medienmarktmächtiger Meinungsmacher. An einer dritten Front wird darum gefochten, ob der für den Kulturteil zuständige Mitherausgeber der »FAZ« sich mit seiner Buch gewordenen »Kapitalismuskritik« nun endgültig vom Konservativen zum Linken gewandelt habe. Schirrmachers Kritiker, aber auch einige seiner Verteidiger, verfahren mit dem Buch genau so, wie es der Autor den Überwachungsapparaten des Internet in Bezug auf das menschliche Individuum nachsagt: Sie zerlegen es in seine Einzelteile.

»Ego« ist ein Roman, der sich als Sachbuch verkleidet hat. Das ist sein Vorzug und sein Problem. Fantasie und Fakten paaren sich hier auf fruchtbare Weise, nur sind die Kinder dieser Beziehung eben Mischwesen. Wer auf Eindeutigkeit fixiert ist, muss Schirrmachers Belletristik - mag sie auch über ein mehr als fünfzig Seiten starkes Quellenverzeichnis verfügen - für unzuverlässig halten.

Das Interesse und den Spürsinn des Autors, der ein Liebhaber des fantastischen Literaturgenres ist, zieht es ins Reich der großen Erzählung. »Dokumentationen«, heißt es an einer Stelle des Buches, »sind das eine; interessanter aber ist der Film, der vor dem inneren Auge der Öffentlichkeit abläuft. Zusammengesetzt aus all dem, was in Zeitungen, im Netz, in Talkshows, in Parlamenten und in Gerichtsverfahren zur Sprache kommt, erfüllt dieses Narrativ alle Anforderungen an einen Horror- und Katastrophenfilm.« Einen solchen Film spult Schirrmacher in »Ego - Das Spiel des Lebens« ab.

Und das ist, stark gerafft, der Plot: Kalter Krieg, ein bombensicherer Raum, US-Soldaten vor hypnotisierenden Radarbildschirmen; mit müden Augen überwachen sie den Luftraum (bzw. dessen flimmerndes Modell). Es droht die Sowjetunion, der Atomkrieg - aber die Soldaten, wie hypnotisiert, schlafen ein. Das Militär sucht Rat bei Ökonomen, Physikern, Mathematikern, und die haben die zündende Idee: Man redet den Soldaten ein, was sie auf den Bildschirmen sehen, sei ein Spiel, der Gegner hinter der Mattscheibe ein Pokerspieler, der den Sieg mit Bluffs erringen will. Die Spieltheorie als logisches militärisches Prinzip, das bald mit dem wirtschaftsliberalen Modell des »homo oeconomicus« verschmilzt: Gehe davon aus, dass du getäuscht wirst, reagiere auf die empfangenen Signale, und wisse in jeder Sekunde: Nichts ist logischer als die Annahme, dass dein Gegner, wie du, aus schierem Eigennutz handelt. Nur unter der Prämisse des Egoismus, so die Stimme des Erzählers, kann man nämlich »die ganze Komplexität menschlichen Verhaltens in die Sprache der Mathematik übersetzen«.

Schnitt - aus den 50ern in die Gegenwart. Die Systemkonfrontation ist beendet, der Westen hat gesiegt - dank Spieltheorie! Das Militär braucht die Physiker nicht mehr. Aber die Wall Street. Dorthin zieht es nun die »Quants«, von den Bankern erst belächelt, dann verehrt. Schirrmacher aus dem Off: »Es sind die spieltheoretischen Modelle des Kalten Krieges, die heute von den Hedgefonds benutzt werden. Ganze Abteilungen der Investmentbanken sind damit beschäftigt, die Absichten konkurrierender Händler aus einem riesigen Datenmaterial mithilfe von Computern und der Spieltheorie in atemberaubender Geschwindigkeit zu entschlüsseln und ihr eigenes Handeln danach auszurichten.« Und weil das egoistische Modell in seiner Liaison mit digitaler Technologie so erfolgreich ist, ziehe es vom Hochfrequenzhandel der Börsen weiter in alle Bereiche des Lebens.

Zwischendurch Rückblenden: in die Labore der Alchimisten (deren Erbe ein Finanzmarkt angetreten hat, der ebenfalls in der Lage ist, aus Nichts Gold zu machen). In die Werkstätten der mit Zahnrädern Leben simulierenden Mechaniker des 18. Jahrhunderts. In die Schreibstuben von Literaten, die das menschengemachte, den Menschen verzehrende Monster ahnungsvoll antizipieren. Am Ende wird der Mensch von der menschengemachten Maschine vollständig überwacht und berechnet. Was er will, was er tut, die Algorithmen wissen es vorher. »Nummer 1«, der Mensch aus Fleisch und Blut, der sich von Gefühl, Intuition und Moralvorstellungen leiten lässt, ist nicht mehr zu unterscheiden von »Nummer 2«, seinem virtuellen Alter ego. Abspann.

Um den »Informationskapitalismus« ernsthaft zu kritisieren, sei Schirrmachers halbfiktionale Methodik illegitim, meinen Leute, die den Autor für einen schwurbelnden Dampfplauderer halten. Wer nichts von der Sache versteht, soll schweigen. So zu argumentieren, heißt aber, jegliche Kritik zur Expertise zu erklären: Wenn Erwachsene reden, hat das Kind die Klappe zu halten.

Jan Fleischhauer fragte Schirrmacher im »Spiegel«-Interview: »Die Finanzwirtschaft sieht in den Algorithmen, mit denen sie operiert, ein Instrument zum Geldverdienen. Sie sehen darin eine Ideologie. Ist das nicht Feuilleton?« Die Antwort: »Alles ist ökonomisiert. In einer solchen Lage zu behaupten, Ökonomie sei eine Angelegenheit für Spezialisten wie beispielsweise die Atomphysik, ist sehr geschickt, denn es ist eine Entmündigung. Tut mir leid, ich kann vielleicht den Motor nicht konstruieren, aber die Betriebsanleitung unserer Gesellschaft würde ich schon gern verstehen.«

Wozu verstehen? Um Schlussfolgerungen zu ziehen, die nicht links, sondern ziemlich konservativ sind - und einigermaßen hilflos wirken: eine europäische Suchmaschine installieren, den Datenschutz neu definieren, die Realwirtschaft stärken, Erhards »soziale Marktwirtschaft« reanimieren und »einfach nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die Nummer 2 uns aufzwingt«.

Abgesehen vom hohen Unterhaltungswert zeichnet sich Schirrmachers »Ego« aber durch einen Gedanken aus, den Linke nicht leichtfertig vom Tisch wischen sollten. Es ist nämlich unwahr, dass der Autor ein Gegner der Technik als solcher sei. »Das Gerät«, heißt es bei Schirrmacher, »ist unschuldig. Es kommt einzig darauf an, wer es in Händen hält und zu welchen Zwecken einsetzt.« Mit einem Hammer, will er sagen, kann man einen Nagel treffen - oder einen Schädel. »Es stimmt, dass das Internet eine Quelle unendlichen Wissens ist und dass es beeindruckende Beispiele kollektiver Intelligenz gibt. Aber wie stets in der Informationsgesellschaft verändert sich dieses Bild sofort, wenn der Cyberspace von den Märkten annektiert wird.«

Frank Schirrmacher: Ego - Das Spiel des Lebens. Blessing, 354 S., geb., 19,99 €.

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