Kap der Unruhe

Verdienstvolle Lesungen am Berliner Ensemble: DDR-Dramatik wiederentdeckt - Alfred Matusche

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Anfang gehört stets Hermann Wündrich. Der Dramaturg erzählt. Nun also von Alfred Matusche (1909-1973). Nein, zunächst erzählt er noch mal von Heinar Kipphardt, der im Januar den Beginn setzte, dieser neuen Reihe im Gartenhaus des Berliner Ensembles - sie stellt verbotene, vergessene DDR-Dramatik vor.

Kipphardt hatte die Komödie »Shakespeare dringend gesucht« geschrieben, darin ein Dichter, der Schlosser ist. Kipphardt war es dann, der die erste Uraufführung für Alfred Matusche mit betrieb: »Die Dorfstraße«, 1955, am Deutschen Theater Berlin. Matusche war - Schlosser.

Zehn Stücke schrieb der »unbekannteste Bekannte oder bekannteste Unbekannte« (Wündrich) der DDR-Dramatik, ein Außenseiter, störrisch Unangepasster, oft vorsätzlich Unbehauster, unterstützt von Brecht, bestärkt von Heiner Müller, inzeniert u.a. von Piet Drescher, Rolf Winkelgrund, Peter Sodann.

»Kap der Unruhe«, 1970 in Potsdam uraufgeführt, erzählt von einem Arbeiter zwischen zwei Frauen und zwei Lebensalternativen: sesshaft werden oder weiterziehen. Einen Toten gibt es, einen Maibaum und viel Alkohol.

Ein Stück, das war. Welcher Gedanke könnte es sein, der noch - ist? Es spricht aus dem Stück eine schöne Weltzugewandtheit, die nur entstehen kann, wenn man zuallererst auf eine gewisse Realitätsfremdheit besteht. Darauf, nicht anzuerkennen, was ist. Auch Sozialismus ist bei Matusche nicht, was es ist, sondern was es sein könnte. Ein Kap der Unruhe. Und also ist dieser Kap einer, der sich nur um den Preis seiner selbst aus einem ziehenden Bauarbeiter in einen standortgefesselten Reparaturbrigadisten verwandeln könnte.

Nie steigt ein Mensch höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht. Das ist er, der dramatische Moment, in dem die Frage nistet, ob dieses ganze Graue der neuen hohen Häuser schon alles sein kann. Die Unerträglichkeit des Betons - hier gegen ein fortwährendes Zur-Welt-Kommen gestellt, das für Kap Übergang bleiben muss, Passion auf freieren Feldern.

Dass Matusches Stück in seiner schroffen Feier des ungebärdigen Individuums doch ein Hymnus auf die Gemeinschaft, ein Lied gleichsam auf den guten Geist der Arbeiterhände war, rettete es für die Spielpläne. Wo es dann freilich nicht bereit war, geschmeidig, gefällig zu werden. Ein kantig geformter romantischer Brocken. Sprachroh, zum Verschweigen neigend.

Wie immer bei dieser Reihe am BE sitzen die Lesenden, diesmal zehn an der Zahl, an einem langen Tisch. Links Manfred Karge, der Spielleiter, er liest die Szenenanweisungen. Die mit den Hauptrollen Betrauten sind naturgemäß lebhafter als andere. Unter diesem Aspekt ist es ein bisschen der Abend des Brigadiers, gelesen von Michael Rothmann. Der Kerl, der den Beruf ausübt, ein Zentrum zu sein, klotzig, entschieden, auch mit genügend Gemüt ausgestattet, nicht alles sofort zu begreifen; Rothmann poltert patent und darf der kleine Gott der Großzügigkeit sein, Kap ziehen zu lassen.

Georgios Tsivanoglou ist einer der Arbeiter, der kugelt sich mit Genuss ins Aufstacheln, Aufwiegeln, Abducken, Durchschlüpfen. Johanna Griebel ist eine keck besonnte Frau zwischen zwei Männern, und Anna Graenzer, schmal, zart, dunkel, ist die Kunststudentin, hinausgeworfen aus dem sozialistischen Realismus.

Kap: Ulrich Brandhoff ein schlaksig-junger Nomade, ein Migrant zwischen den Zuständen, vorwiegend ein Lächeln durchzieht sein Wesen, dass er Abhilfe schaffen wird gegen die Gewissheit, am falschen Platz und also nicht im eigenen Element zu sein. Einer, der sich seinen Weg sucht zwischen den Wahrheiten des Leichtsinns und des Schwermuts. Entfernung ist ihm eine immerwährendes Ankommen im Eigentlichen.

Der wird sich herauswühlen aus den Strukturen, und so gehen Gehör und Blick zu diesem ferngewordenen Werk hin, und du spürst das Eisen der eigenen Füße, die doch selber so wenig wissen vom Weitergehen, vom Wechsel, vom Unbehaustsein auf unasphaltierten Wegen. Wie selten wird der Mensch, der nicht in der Dramatik leben darf, zum Athleten der Eigentlichkeit. Kap ist der Mann, der lieber in die Wüste zieht, als Wurzeln im Bebauungsgrund zu schlagen. Aber ist es die Tugend der (werktätigen) Romantiker, die Wüste herauszufordern, so ist es die Tugend der Wüste, hinreichend grausam zu sein, um die heilsame Verzweiflung hervorzurufen - die immer wieder sesshaft und also Typen wie Kap so selten macht.

Trotzdem: »Rag aus Stein und Beton«, Auftrag für den Eigensinn, damals wie immerdar.

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