Ängste und Hoffnungen

»Wildwuchs« - Junge Texte fürs Theater in Potsdam

  • Lesedauer: 3 Min.

Zu einer ungewöhnlichen Initiative zur Förderung junger Dramatik fanden sich das Hans-Otto-Theater Potsdam und die Universität der Künste Berlin. Erstmals standen an einem Abend erfahrene Schauspieler und Schauspielstudenten auf der Bühne und stellten ungespielte Texten von Studierenden des Studiengangs »Szenisches Schreiben« vor. Inszeniert hatten Schauspieldozenten sowie der Potsdamer Intendant Tobias Wellemeyer. »Wildwuchs« stand als Titel über dieser »Langen Nacht« und beschrieb die Tatsache, dass es sich hier nicht um die Verkaufsmesse einer »Schreibschule« mit festgezurrten Hinschreibregeln handelte, sondern um die Vorstellung möglichst ungewöhnlicher eigener Handschriften.

Die Autoren sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, drei von Ihnen haben das Studium verschiedener Geisteswissenschaften hinter sich und alle haben konkrete Arbeitserfahrungen an staatlichen Theatern oder in der Freien Szene gemacht. Unterschiedlich wie die Handschriften sind auch die Schreibimpulse. In Abgrenzung zu »unserem langweiligen Leben« will Konstantin Küspert seine Figuren in »Extremsituationen« bringen, in denen sie »scheitern oder aufwachen« können; Michel Decar will Situationen finden, die über die eigene Biografie hinausgehen und die Erfahrungen seiner Generation abbilden. Denkt man die Texte zusammen, so erscheinen diese Erfahrungen vor allem als existenzielle Ängste, weniger als zukunftsgewisse Hoffnungen.

Panische Angst, »Winter und Frühling verschlafen« zu haben und als Rädchen im Hamsterrad eines ziellos rotierenden Gemeinwesens den Halt zu verlieren, hat der Held in Michel Decars »Jenny Jannowitz«. Die Figuren der 20-jährigen Fanny Sorgo treibt in »Der himmelblaue Herr« die Furcht um, ihre »Seele könnte in «tausend Teile zerplatzen» und die unzähligen Geisterfahrer auf zubetonierten Autobahnen könnten zu einem «Megacrash» zusammenstoßen. In «Mensch Maschine», einem Science-Fiction-Comic von Konstantin Küspert widersetzt sich der Held mit letzter Kraft der totalen Deformierung durch eine seelenlose experimentelle Wissenschaft und beschließt am Ende, ein neues Leben mit einer neuen Freundin zu beginnen.«

Unübersehbar, dass sich die jungen Autoren von Grundsituationen anregen lassen, die sie in der dramatischen Weltliteratur kennengelernt haben. Wenn sich beispielsweise der Held in »Jenny Jannowitz« beim Ausdrucken seines schriftlich formulierten Lebenslaufes nicht wiedererkennen kann, wer dächte da nicht an Becketts »Das letzte Band«, dem Monolog Krapps, in dem sich der auf sein Leben Zurückblickende von seiner eigenen Geschichte entfremdet.

Drei Kurzinszenierungen von jeweils 25 Minuten haben die Studierenden beigesteuert, den Abschluss bildet Tobias Wellemeyers Inszenierung des behutsam eingestrichenen Stücks »Mensch Maschine«. In den studentischen Kurzinszenierungen werden aussagekräftige Kernszenen der jeweiligen Stücke herausgegriffen. »Jenny Jannowitz« wird auf die Ausgangssituation reduziert, in der sich die kommenden, immergleichen Einflüsterungen von Chefs, Freundin und Mutter ankündigen. Von der Familiensaga »Der himmelblaue Herr« bleiben clownesk zugespitzte Auseinandersetzungen eines Paars der Enkelgeneration übrig und in der Vorstellung von Thomas Köcks »Der Selbstmord des Mr. Scarlett Johannsen« werden einzelne Handlungsstränge ineinander verschränkt.

Bei allem Werkstattcharakter zeichnen sich durchaus darstellerische Begabungen ab. Fabian Raab als der Held in Michel Decars Stück vermag durchaus dessen hoffnungslose Überforderung ins Bild zu zwingen, wenn er - sich an einem Rollstuhl festkrallend - im immer schnelleren Tempo die Bühne umrundet. Im Vergleich mit den Studentenaufführungen erweist sich Tobias Wellemeyers Inszenierung von »Mensch Maschine« als nahezu aufführungsreif. Sie hat Rhythmus, Tempo und Witz. Wie eine hochgezüchtete Riege von Höchstleistungssportlern gehen die Wissenschaftler ein menschenverachtendes Experiment an und mit Blitz und Donner knallt alles auseinander, weil sich eine der »2 Millionen Schaltstellen« des neuen Programms verabschiedet hat.

In Erinnerung bleibt Dennis Herrmann als »ER«. Wie er zur ferngelenkten Marionette mutiert und dann tapfer um die Rückgewinnung menschlichen Verhaltens ringt, zeigt überdurchschnittliche körpersprachliche Beredsamkeit.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal