Verweserei
Jürgen Reents über türkische Medien beim NSU-Prozess
Wer zu spät kommt, den bestraft – nicht nur das Leben, sondern auch die deutsche Justiz. Dies ist die simple Rückzugslinie, die sich das Oberlandesgericht München zurechtgelegt hat, um der heftigen Kritik an der Presseplatzvergabe beim Mitte April beginnenden NSU-Prozess zu widerstehen. Es stimmt: Die begrenzte Kapazität im Gerichtssaal war bekannt, da hieß es für alle Medien, sich hurtig anzumelden. Spät aufstehen ist keine zu empfehlende Angewohnheit in der Pressebranche. Aber das eingetretene Dilemma darauf zu reduzieren, haucht den staubigen Atem einer vorgestrigen, den psychologischen und gesellschaftlichen Beiklang dieses Prozesses nicht wahrnehmen wollenden Verweserei – wie man schweizerisch eine Verwaltung nennt. Acht Opfer des Neonazi-Terrors hatten eine türkische Herkunft. Dass türkischen Medien eine Prozessberichterstattung aus dem Gerichtssaal heraus garantiert sein muss, gebietet jenseits aller Formalitäten die Vernunft.
Nun hat das Gericht auch Vorschläge abgelehnt, die das Dilemma zumindest mildern wollten. Weder darf die »Bild«-Zeitung ihren Platz der mit dem Springer-Verlag verbundenen türkischen »Hürriyet« abtreten, noch das »neue deutschland« den seinen als kollegiales »Sharing-Modell« mit einem türkischen Medium teilen. Damit offenbart das Münchener Gericht einen Komplettausfall seines psychosozialen Nervensystems. Es muss sich den Vorwurf gefallen lassen, der polizeilichen Pannenserie bei der Aufklärung der Verbrechen nun auch noch eine der Justiz anzufügen.
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