»Ermittlungspannen? Das ist System!«

Die Anwältin und Publizistin Seyran Ates über den NSU-Prozess, islamistische Morddrohungen und Mohammed-Witze

  • Lesedauer: 9 Min.

nd: Frau Ates, Ihr aktuelles Buch trägt den Untertitel »Warum ich Deutschland lieben möchte«. Was macht es Ihnen derzeit schwer, sich mit Deutschland zu identifizieren?
Ates: Nichts. Es gibt nur Dinge, die mich auch als Mensch, der dieses Land liebt, aufregen. Traurig ist, dass es nach wie vor für Menschen mit einem nicht-deutschen Namen sehr schwer ist, einen Arbeitsplatz oder einen Ausbildungsplatz zu finden. Eine gute Qualifikation auf dem Fachgebiet, sehr gutes Deutsch, vielleicht dazu noch Kenntnisse in Englisch, Türkisch oder Arabisch reichen bei den Allermeisten nicht aus, um eine adäquate Stelle zu finden. Da wird immer noch der deutsche Name vorgezogen.

Sie erwähnen im Buch Ihre Liebe zur deutschen Verfassung.
Ja, unsere Verfassung ist so nah an der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass man sie einfach nur lieben kann, wenn man Menschenrechtsaktivistin ist. Sie gibt uns viel Demokratie und viel Freiheit. Sie bewirkt, dass wir eine offene, demokratische Gesellschaft sind. Sie ist für das Zusammenleben der Menschen eine Art Gesamtkunstwerk.

Seyran Ates - ihr Leben

Seyran Ates wurde 1963 in Istanbul als Tochter einer Türkin und eines Kurden geboren. Seit 1969 lebte sie mit ihren Eltern in Berlin-Wedding, lief mit 17 jedoch wegen der repressiven Erziehung von zu Hause fort.

Ates studierte Jura an der Freien Universität Berlin und arbeitete während des Studiums in einem Kreuzberger Frauenladen, der Migrantinnen in allen Lebenslagen Hilfe anbot. 1984 wurde sie hier Zeugin eines Mordanschlags auf eine Besucherin, bei dem Ates lebensgefährlich verletzt wurde. 1997 nahm sie ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin auf und spezialisierte sich auf Familienrecht und Strafrecht. Daneben etablierte sie sich als Expertin für Menschenrechtsfragen in der Migrationspolitik, beriet den Stuttgarter Landtag und das Berliner Abgeordnetenhaus und bezog in Vorträgen und Publikationen Stellung zu Themen wie Zwangsheirat und Ehrenmord. Aufgrund von Morddrohungen, insbesondere nach Publikation ihres Buches »Der Islam braucht eine sexuelle Revolution«, zog sich Ates zwischenzeitlich aus der Öffentlichkeit zurück und ließ ihre Anwaltstätigkeit ruhen. 2012 gab sie ihre türkische Staatsbürgerschaft auf und schrieb kurz darauf das Buch »Wahlheimat - Warum ich Deutschland lieben möchte«, das 2013 im Ullstein Verlag erschien.

Das ist die Theorie.
Richtig, aber dahinter steckt eine Praxis. Ich habe auf der Demonstranten-Seite erleben dürfen, dass uns das Recht gegeben wird, frei unsere Meinung zu äußern und zu demonstrieren. Sei es gegen Atomkraftwerke, für Frauenrechte, am 1. Mai oder beim Christopher Street Day. Ich habe meine 20er Jahre mit Demonstrieren verbracht und eins zu eins miterlebt, wie einfach das für uns war zu demonstrieren, auch gegen den Staat, gegen die Polizei sein zu dürfen. Trotzdem hat uns die Polizei beschützt.

In der Türkei dagegen habe ich mit Anfang 20 bei den Unruhen in den 80ern gesehen, wie junge Menschen geprügelt und aus den Universitäten ausgeschlossen wurden, wie es einen Krieg zwischen den Rechten und den Linken gab, mit vielen Toten.

In Anbetracht dessen, dass die Nazi-Terrorzelle NSU viele Jahre unentdeckt blieb und bei den Ermittlungen etliche Akten »versehentlich« geschreddert wurden - welches Bild haben Sie vom deutschen Verfassungsschutz?
Meine Meinung zum Verfassungsschutz ist sehr negativ, aber nicht erst seit diesen vermeintlichen Pannen. Ich wurde 1984 in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei angeschossen. Damals hatten wir dem Verfassungsschutz genügend Informationen darüber gegeben, dass die rechtsextremen »Grauen Wölfe« diesen Anschlag verübt haben, damit er in diese Richtung recherchiert. Als dann 1985 im Prozess ein Mann verurteilt werden sollte, den wir per Phantomfoto erkannt hatten, tauchte ein Verfassungsschutzbeamter im Gerichtssaal auf. Und auf die Frage des Richters, ob es eine politisch motivierte Tat sein könnte, sagte er, er kenne keinen Verein namens »Graue Wölfe« und könne dazu nichts sagen. Das war seine einzige Aussage.

Seitdem ist meine Meinung zum Verfassungsschutz, dass er auf dem rechten Auge blind ist. Wenn sie dort vermeintlich Akten verlieren und vermeintlich Ermittlungsfehler passieren, denke ich, dass System dahinter steckt.

Und wenn Sie, wie in den letzten Monaten häufig, von »technische Pannen« beim Verfassungsschutz lesen?
Dann denke ich: Guten Morgen, Rest der Welt! Natürlich sind das keine Pannen. Welcher intelligente Mensch lässt sich das aufs Brot schmieren? Für wie dumm hält man uns?

Es ist zumindest die offizielle Sprachregelung.
Das ist peinlich genug. Man findet keine anderen Worte dafür. Das Positive an der Sache ist wiederum, dass jetzt alles an die Öffentlichkeit dringt, dass immer mehr Menschen sehen, von was für einem Apparat wir die ganze Zeit, vermeintlich, beschützt wurden.

Die Aufdeckung der NSU-Morde und das, was bei den Ermittlungen schief gelaufen ist - hat das Ihre Liebe zu Deutschland nicht erschüttert?
Nein, die ist davon absolut unberührt geblieben. Auch weil ich das Thema Rassismus bzw. rechte Gesinnung im politischen Apparat wieder im Verhältnis zu anderen Ländern sehe, auch im Vergleich zur Türkei. Und mit der Aufdeckung macht Deutschland jetzt einen Schritt nach vorne.

Glauben Sie das wirklich? Die beteiligten Beamten sagen nicht aus oder können sich angeblich nicht erinnern. Zudem steht mit Hans-Georg Maaßen jemand an der Spitze des Verfassungsschutzes, der offensichtlich Folter duldet, wenn wir an den Fall Murat Kurnaz denken. Wo sehen Sie da eine Besserung?
Wir haben jetzt den NSU-Prozess, wir haben Öffentlichkeit, und beim Verfassungsschutz ist - hoffe ich zumindest - Personal ausgetauscht worden. Ich hoffe, dass Politiker jetzt einen anderen Einblick bekommen und dass ein besserer Kontrollmechanismus entsteht.

Wenn in den politischen Rängen rechtes Gedankengut existiert, wird es natürlich schwieriger sein, das aufzudecken. Da kommt es auf die Untersuchungsausschüsse an. Die würde ich derzeit als integer bezeichnen, die versuchen tatsächlich, mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Ansonsten hätten wir von all den vermeintlichen Pannen ja nichts erfahren. Inzwischen sehen wir diese Dinge im Fernsehen, das lässt sich nicht mehr verdunkeln.

Doch selbst bei der ersten Vergabe der Presseplätze im NSU-Prozess gab es angeblich eine »technische Panne« beim Versand von E-Mails. Glauben Sie das?
Nein, natürlich nicht. Nun ist Richterschelte nicht mein Hobby, aber dieses Gericht hat sich wirklich sehr peinlich und stur verhalten. Vor allem, weil den Richtern die Möglichkeiten gegeben sind, für die Gerichtsverhandlung auch einen größeren Raum in der Stadt, im Prinzip sogar das Münchener Olympiastadion zu mieten. Sie sind nicht gebunden an das Gericht, in dem sie sitzen. Wenn in der Türkei ein Verfahren so ablaufen würde, dann würde man in Deutschland vermutlich sagen: Das ist undemokratisch, rassistisch und diskriminierend, das ist doch alles abgesprochen und eine Verhinderungsstrategie.

Was bereitet Ihnen mehr Angst in Deutschland: rechte Gewalt oder gewaltbereite Islamisten?
Das sind Brüder und Schwestern im Geist und im Herzen, für mich identisch und gleich gefährlich. Die Rechten da draußen möchten Menschen wie mich nicht gerne hier haben und sind bereit zu töten. Sie haben ja gezeigt, dass sie wild drauf los gehen und Menschen umbringen, nur weil sie einen fremden Namen haben.

Und die Islamisten schicken mir Morddrohungen. Deshalb gibt es für mich da keinen Unterschied. Ich habe genauso Angst vor einem Skinhead wie vor einem Islamisten. Ich bin auf Usedom mit Hitler-Gruß aus einem Café gejagt worden, 1990. Deshalb weiß ich, wie sich das anfühlt. Seitdem bin ich nicht mehr dort gewesen.

Finden Sie Rückhalt bei den Behörden wenn es um die Morddrohungen geht, die Sie erhalten?
Ich stehe seit 2006 unter Polizeischutz, und einige dieser Leute sind auch gefunden worden. Das Problem ist, dass ich die meisten Droh-Mails von Servern bekomme, die irgendwo in der Welt aufgestellt sind und sich nicht zurückverfolgen lassen. Wenn ich auf Veranstaltungen bin, steht der Staat zu 100 Prozent hinter mir und denjenigen, die mich im Moment schützen, bin ich dafür dankbar. Aber die können das auch nur bis zu einem gewissen Grad. Was dann im Hintergrund tatsächlich passiert und recherchiert wird, weiß ich nicht. Ich vermute, dass es zu wenig ist. Ich weiß auch nicht, wer dafür zuständig ist und ob deren Experten es so schlimm finden, was die Islamisten machen, oder ob sie es gewöhnlich finden.

Könnten Sie uns einen guten Witz über den Islam oder über Mohammed erzählen?
Also ... nein. Es gibt viele, ich bin nur keine gute Witze-Erzählerin. Ich müsste jetzt meinen Bruder anrufen, der könnte Ihnen ad hoc welche erzählen. Und dann lachen wir uns halb scheckig darüber. Muslime erzählen viele Witze. Nicht über Mohammed - über den auch, aber vor allem über Imame und über Hodschas. Das glaubt man gar nicht, aber da gibt es sehr viele Witze, die genauso sexistisch und unter der Gürtellinie sind wie teilweise in anderen Sprachen und Religionen. Herrenwitze eben. Sehr sexualisiert.

Also, man darf Witze machen?
Ja, untereinander machen auch Muslime Witze. Glauben Sie mir, in den Cafés, bei den Männerzusammenkünften, bei Frauenzusammenkünften lachen wir uns scheckig über die Kopftuchfrauen und über die Hodschas. Die meisten sind nur der Ansicht, dass die Christen und Juden keine Witze über uns machen dürfen. Aber Muslime selber tun das und können über sich selbst lachen. Nur bei den Salafisten und anderen orthodoxen gibt es das nicht.

Erst kürzlich wurde der Pianist Fazil Say in der Türkei wegen Blasphemie verurteilt, weil er auf Twitter über einen Muezzin witzelte.
Seine Verurteilung ist unsäglich, da habe ich gedacht: typisch Erdogan, typisch seine Regierung. Das ist typisch für sehr viele Orthodoxe, die gerade nach außen hin überhaupt keinen Humor haben. Bei so etwas denke ich dann an die Juden, die so viel Selbstironie und Humor besitzen und über sich selbst lachen können. Da sind sie ein gutes Beispiel.

Insbesondere der Karikaturenstreit hat dafür gesorgt, dass hierzulande und in Europa Künstler mit dem Thema Islam vorsichtiger umgehen. Satiriker wie Bruno Jonas und Kaya Yanar verzichten generell auf das Thema.
Das ist vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur, das finde ich absolut falsch.

Dabei sagten Sie doch gerade, man dürfe als Nicht-Muslim keine Witze über den Islam machen.
Nein, das war nicht meine persönliche Meinung, die ich wiedergegeben habe. Ich habe kein Problem damit, wenn Sie Witze darüber machen.

Und wenn ein Comedian den Schluss zieht, das Thema auszusparen?
Dann ist das die absolut falsche Konsequenz. Es macht mich wütend und aggressiv, wenn Comedians sich so einschränken lassen. Je mehr sie das tun, desto mehr obsiegen die Radikalen, die uns ihre Sicht der Welt aufdrücken wollen.

Zum Schluss: Was, Frau Ates ist typisch deutsch an Ihnen?
Dass ich jetzt pünktlich zu meinem nächsten Termin komme (lacht).

Ist Pünktlichkeit keine türkische Eigenschaft?
Doch, auch als Türkin schätze ich Pünktlichkeit und Verbindlichkeit. Aber als Türkin würde ich sagen: »Okay, wenn ich da jetzt 10 oder 15 Minuten später auftauche, ist das nicht so schlimm.« Da bin ich entspannter, unter meinen türkischen Leuten. Doch die Person, die ich jetzt treffen werde, ist eine Deutsche. Da drängt es mich mehr, pünktlich zu sein. Das ist dann meine deutsche Ader.

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