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Solche Eltern sollte jeder haben

  • Lesedauer: 3 Min.

Meine Eltern waren für mich Eltern, wie sie im Buche stehen. Sie hatten immer einen Rat, waren in wichtigen Forderungen konsequent, haben mich in notwendige Entscheidungen einbezogen und waren selbst Vorbild in jeder Beziehung. So gab es zum Beispiel zwei schwierige Entscheidungssituationen in meiner schulischen Entwicklung.

Nach Beendigung der 4. Klasse 1944 war meine Klassenlehrerin der Meinung, ich sollte aufgrund guter Leistungen eine höhere Schule besuchen. Mit viel Überredungskunst und tollen Beispielen versuchte sie mir den Besuch einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt in Ballenstedt schmackhaft zu machen. Eine Einrichtung in der der Führungsnachwuchs für das Hitlerregime ausgebildet wurde.

Mit meinen elf Jahren wusste ich davon natürlich nichts. Mit solch verlockenden Angeboten wie dort, wo man Reiten und Segeln lernen, Tennis und Golf spielen konnte, fand sie bei mir sofort offene Ohren. Erstens war ich zu der Zeit schon sportlich sehr ambitioniert, und zweitens war der Zugang zu solch exquisiten Sportarten für mich als Arbeiterkind ansonsten unmöglich.

Als ich meiner Mutter den Vorschlag der Klassenleiterin unterbreitete und sie merkte, dass ich Feuer und Flamme dafür war, erlebte ich sie zum ersten Mal fassungslos. Sie versuchte mir begreiflich zu machen, dass die verlockenden Aussichten ein Vorwand waren, um mich für eine »schlechte Sache« zu gewinnen und endete mit den Worten: »Bevor du an diese Schule gehst, schlage ich dich eher tot.« Um mir aber gleich darauf ins Gewissen zu reden, dass ich darüber mit niemandem sprechen dürfte. Ich war maßlos enttäuscht. Versprach aber, der Klassenlehrerin und auch sonst niemand davon zu erzählen.

Obwohl ich die gesellschaftlichen Zusammenhänge in ihrer ganzen Tragweite nicht begriff, teilte ich der Klassenlehrerin mit, dass meine Mutter nicht einverstanden wäre und ich lieber ab der 5. Klasse das Gymnasium besuchen sollte. Das traf deshalb auf Zustimmung, weil zwei meiner Klassenkameraden ihre Zusage für den Besuch der NAPOLA gegeben hatten.

Erst viel später habe ich erkannt, dass eine unbedachte Äußerung meinerseits unserer ganzen Familie die Freiheit, wenn nicht sogar das Leben, hätte kosten können.

Der Rat meiner Mutter hat mir vieles erspart, was ich allerdings erst richtig einschätzen konnte, als einer meiner ehemaligen Klassenkameraden, der zur Aufnahmeprüfung und dann als Schüler in Ballenstedt war und nach dem Ende des Hitlerreiches wieder mein Klassenkamerad wurde, über die tatsächlichen »Anforderungen und Mutproben« erzählte.

Eine andere Situation, die für meine Entwicklung von großer Bedeutung war, gab es in der 11. Klasse. 1949/50, der Krieg war zu Ende. Ein neues Bildungswesen wurde aufgebaut. Viele Lehrer waren im Krieg gefallen. Andere waren aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters oder ihrer früheren politischen Tätigkeit für Lehrtätigkeit nicht mehr geeignet. Es wurden neue, junge Lehrer gesucht.

In unserer Schule wurde dafür geworben, sich in einem sechsmonatigen Lehrgang als »Neulehrer« ausbilden zu lassen. Einige meiner Klassenkameraden meldeten sich sofort.

Die Verlockung, auch ohne Abitur Lehrer werden zu können und spätestens nach sechs Monaten Geld zu verdienen, förderten bei mir den Entschluss, den Schulbesuch abzubrechen. Als ich diesen Vorschlag zu Hause mitteilte, gab es nicht nur Erstaunen, sondern von meinem Vater eine heftige, von ihm nie gekannte Reaktion, die mit einem kategorischen »Nein« endete.

Ich glaube, ich habe selten so viel Tränen vergossen wie über diese Entscheidung, die ich tagelang nicht begreifen konnte. Jeder meiner Einwände wurde abgelehnt mit der Bemerkung: »Eine einmal begonnene Sache wird bis zu Ende geführt. Mach das Abitur. Dann kannst du von uns aus jeden Beruf ergreifen, den du möchtest. Jede Tätigkeit ehrt, egal was du dann machst.«

Erst Jahre später, nach einem erfolgreichen vierjährigen Studium und später nach einer erfolgreichen Promotion, konnte ich die Ratschläge meiner Eltern für meine Entwicklung richtig begreifen.

Dr. Hans-Joachim Weber, 09119 Chemnitz

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