Die Auslöschung der Welt

Theatertreffen: Thalheimers »Medea«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der erste Ton ist ein hämmerndes Klacken von Kothurnen. Medeas Dienerin bewegt sich auf die Wand zu, die sehr weit hinten die Bühne abschließt. Dort, auf einem schmalen Steg, hockt Medea. Das Hämmern der hohen Holzschuhe: als schlüge eine Uhr, als schlüge sie so laut, um die Zeit selbst in die Flucht zu schlagen, durch peinigenden Lärm. So schlägt die Stunde, die dem Menschen schlägt, wenn er im Urgrund seines Wesens auf sich selber trifft. Auf Angst, auf Rachsucht, auf wühlende Wut gegen den Verrat.

Angst. Besseres als Angst kann man nicht zeigen. Weil sie der Beginn aller Bewegung ist (wir wollen fortwährend irgendwem, irgendetwas entkommen!), sie ist aber auch das Ende aller Bewegung (man entkommt nie!), und sie ist dann der nächste Ursprung, für die nächste Bewegung. Jeder Schauspieler, wenn er überragend ist, könnte eine Art Amokläufer in diesem Teufelsmenschenkreis sein: Er steht vor uns, wir können ihn nicht wegzappen, er atmet, er schwitzt, er ist kurz vorm Sprung. Oder er ist bemitleidenswürdig verzweifelt - und ihm ist nicht zu helfen, solange uns nicht zu helfen ist. Wenn er Angst spielt, als habe er sie, springt die Angst als Ereignis über, zu uns.

Der Schauspieler. Er? Sie! Constanze Becker. Die Medea in Michael Thalheimers Euripides-Inszenierung am Schauspielhaus von Frankfurt am Main - diese Aufführung eröffnete das 50. Berliner Theatertreffen.

Die Becker ist königlich stolz, elend zerbrochen, später ist sie verachtenswert herzkalt. Sie scheint in ihrem Spiel Wert auf Grobheit zu legen, just dann, wenn sie gütig ist - und ihre Schönheit schillert auf, wenn sie sichtbar verhärtet. Irgendwie unverkrampft einfach steht sie in den Anwürfen des Dramas.

Medea. Steht wie ein zerknacktes Rückgrat. Oder gekrümmt wie Fleisch, das sich im Fegefeuer aufbiegt. Liegt wie zertreten. Steht wieder auf, windet sich aus einem Kauern, das aussieht, als erlebe da ein Mensch, was Tierangst ist. Sie brüllt, lacht, zischt, bellt (irr komödiantische Katze), dann klingt es, als miaue sie (die listige Hündin). Den Anfang machten Schreie, dass selbst grausamste Folterinstrumente neidisch einander zuraunen würden: Hört nur, welch Quäl-Meister ist da am Werke?!

Eine Meisterin: Diese großartige Constanze Becker. Sie spielt Seele, ohne je einen Vorgang, eine Situation zu zerseelen; und im Herben verhärtet sie nicht. Aber ihre Aura kann die des scharfen Sandstrahls sein. Wenn sie zwischen Ja und Nein zum Kindermord hin- und hergerissen tobt und winselt, dann zeigt uns die Ent-Artung, wie sie auf brennendsten Schmerzwegen einen Menschenkörper, ein Herz betritt, als sei das ein Siegerpodest. Als Frau ist Medea: tief unten. Aber doch weit oben: als Meteorit, der einschlagen wird.

Mit der Vernichtung der liebsten Kinderkörper - eine lehrhafte Grausamkeit wider den Mann des Verrats - löscht sich Medea zugleich die eigene Seele aus. Sie schafft die Welt ab. Oder gibt ihr die endgültige Balance: Zeugung und Zerschlagung treiben beide gleichermaßen das Menschenreich voran. An Kindern ist dies Unvereinbare, das so grässlich zusammengehört - die Geburt nämlich und der Totschlag - am sinnfälligsten zu zelebrieren.

Plötzlich rückt der Wandfels mit Medea nach vorn. Wie eine Front Panzer. Langsam, sehr langsam: Das Zerquetschen der Welt ist ein Ritus, der Eile nicht verträgt und der Eile nicht nötig hat. Theater ist wahrlich: Maschinerie. So wie die Wand kommt, kommen Urgewalten auf.

Dann fährt der Wandvorsprung, Medeas Ort, herunter, und bald sehen wir sie sauber, frisurbereinigt, im kurzen schwarzen Kleid. Zivilisationsgefasst. Frau up to date. Auf dem Bühnenboden steht sie wie auf dem Boden ganz neuer Tatsachen. So geht man aus den Verbrechen heraus, wenn man noch nie etwas hörte vom Wort Sühne. Sie wird es vielleicht nie hören, in den Kreisen, wo man solche Kleider trägt. Das Edle ist das Triumphierende. Triumph ist ein Kältegrad wie Töten. Das Schlimme höret nimmer auf. Groß!

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