Am Prozess mäßig interessiert

Türkische Öffentlichkeit zeigt sich misstrauisch gegenüber deutschen Behörden und erwartet keine wirkliche Aufklärung

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.
Für viele Türken ist das Urteil über den NSU-Prozess in München bereits gefällt. Und zwar gegenüber Personen, die gar nicht auf der Anklagebank sitzen.

Die deutschen Sicherheitsbehörden sind in den Augen einer breiten türkischen Öffentlichkeit Teil des Problems um den Nationalsozialistischen Untergrund. Der Streit um die Sitzvergabe an türkische Journalisten hat das Maß darüber hinaus für viele voll gemacht. Zwar hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die anschließende Zulassung einiger türkischer Medien für etwas Entspannung gesorgt, doch der Ausschluss führender deutscher Medien sorgt für erneutes Kopfschütteln. Nicht so recht verstanden hat man am Bosporus auch, dass das Gericht einen der vier Plätze für türkische Medien dem türkischen Büro des arabischen Fernsehsenders Al-Jazeera überlassen hat. Und zu allem Überfluss werden dem türkischen Konsulat in München, der Botschaft, anreisenden türkischen Parlamentariern und Vertretern der islamischen Glaubensgemeinschaft keine reservierten Plätze eingeräumt. Man malt sich aus, wie der türkische Botschafter zusammen mit einer Delegation des türkischen Parlaments früh morgens vor dem Gericht in der Schlange steht, in der sich bereits einige Personen mit extrem kurzem Haarschnitt und Bomberjacken drängen …

Dabei war die Nichtzulassung türkischer Medien beim ersten Vergabeverfahren erst der Punkt gewesen, der die türkische Öffentlichkeit auf das Verfahren aufmerksam gemacht hatte. Mete Cubukcu, der selbst zwei Fernsehsendungen über die NSU-Verbrechen gemacht hat, bestätigt dies. Über die Nichtzulassung türkischer Medien zu dem Gerichtsverfahren sei in der Türkei mehr berichtet worden als über die ganze NSU-Affäre, meint der Journalist. Die religiöse Zeitung »Zaman« schrieb schon zum wiederholten Male in ihrer ungefähr eine Million Exemplare umfassenden Druckauflage, der Ausschluss der türkischen Journalisten unter dem »Vorwand« des Platzvergabeverfahrens habe in der türkischen Öffentlichkeit den Eindruck »verfestigt«, dass etwas »verheimlicht« werden solle. Die »Zaman« dürfte mit dieser Einschätzung nicht allein sein.

Leicht vermischen sich dabei Fakten, Vermutungen und Unterstellungen. So finden Brände in von Türken bewohnten Häusern in Deutschland regelmäßig rasche und umfassende Berichterstattung. Der Feststellung der Ermittlungsbehörden, der Brand von Backnang, bei dem eine Mutter mit sieben Kindern umkam, sei durch Fahrlässigkeit der Bewohner ausgebrochen, wurde in den türkischen Medien offen widersprochen. Dagegen fand die Darstellung der Großmutter weite Akzeptanz, wonach das Sofa, auf dem sie geschlafen hatte, nicht der Brandherd gewesen sein könne, da sie den Brand überlebt habe.

In einem scharfen Artikel auf dem Internetportal »Migazin« äußerte Ali Kilic die Vermutung, dass das Wort von der Schande, das Angela Merkel in Anwesenheit der Angehörigen der Opfer gesagt hatte, bereits den Höhepunkt der Aufklärung darstelle und von dem Prozess keine ähnlich wahre und richtige Schlussfolgerung zu erwarten sei.

Insgesamt ist das Interesse an Einzelheiten über den Prozess und die gesamten NSU-Morde in der Türkei auffallend gering. Nach dem Grund gefragt, sagt Mete Cubukcu, die türkischen Medien würden die Bedeutung des Verfahrens nicht genügend verstehen. Es ist daher kein Zufall, dass die schärfsten und genauesten Artikel zur NSU-Affäre für Medien geschrieben werden, die sich auch an Türken in Deutschland richten. Den eigentlichen Grund hierfür sieht Cubukcu in mangelndem Interesse an den Türken, die nicht in der Türkei leben. Entscheidend für die Aufmerksamkeit am Verfahren in München werde sein, ob es bei den »drei, vier Angeklagten« bleibt oder die Strukturen hinter ihnen ans Licht kommen. »Das ist das Thema, auf das wir gespannt sind.«

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