»Ich urteile nicht«
Ulrich Seidl über seine Paradies-Trilogie
nd: Was hat Sie zum Umstieg ins Fiktionale veranlasst?
Seidl: Für meine Dokumentarfilme habe ich stets auf fiktive Elemente zurückgegriffen. Nach »Tierische Liebe« hatte ich mein System so perfektioniert, dass ich den nächsten Schritt gehen musste. Jeder Dokumentarfilm hat Grenzen, Menschen müssen ja bereit sein, über sich oder einen Sachverhalt nachzudenken. Der Spielfilm bietet da größere Freiheiten.
Ursprünglich wollten sie einen Film drehen, jetzt sind es drei Teile geworden. Was gab dafür den Ausschlag?
Ich wollte in drei Urlaubsgeschichten von Frauen und deren Sehnsüchten erzählen. Da ich digital gedreht habe, konnte ich auf 90 Stunden Material zurückgreifen, aus denen eine Fassung von sechs Stunden entstand. Die Länge hätte mich persönlich nicht geschreckt, wenn der Film funktioniert hätte. Die Handlung war jedoch zu komplex und der Ton der einzelnen Geschichten zu verschieden.
Es lag auf der Hand, drei Filme daraus zu schneiden. Solche Entscheidung lassen die Produktionsbedingungen sonst nicht zu. Als Produzent hätte ich das Risiko wohl auch gescheut, als Künstler bin ich das Wagnis gerne eingegangen.
Finden Sie Glück in der Arbeit?
Zur Magie des Filmemachens gehören Glücksmomente. Wahrhafte Momente, wenn man etwas ganz Besonderes sieht. Am Set stellen sie sich oft ein. Im Schneideraum sind sie durch die moderne Technik seltener geworden. Wenn früher die Filmrollen aus dem Labor kamen, entdeckte man in den Bildern oft vieles, was überrascht hat.
Wie fanden Sie die Balance, die Frauen in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Sex zu porträtieren, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben?
Meine Figuren zu denunzieren, wäre der falsche Ansatz. Ich zeige die Realität, aber ich urteile nicht. Ich mache die Filme aus meinen moralischen Vorstellungen heraus, ich hüte mich aber sie weiterzugeben. Es geht einzig um Wiedererkennung. Wobei dies für Männer schwieriger ist, sich als Teil des Problems zu sehen. Aber sie sind es doch, die Frauen nach einem Schönheitsideal beurteilen, das jenseits eines gewissen Alters kaum noch zu erfüllen ist. Frauen wollen aber nicht ständig ihrer Kritik ausgesetzt sein, sie wollen geliebt werden wie sie sind.
Sind nicht Männer und Frauen Opfer eines Ideals, das von den Medien gemacht wird?
Natürlich, Schönheitsideale haben sich verändert, in Afrika gelten füllige Frauen als attraktiv. Meine Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel aus dem ersten Teil gilt in den arabischen Ländern als schöne Frau. Und die Wahrheit sieht ja auch bei uns anders aus als das Diktat der Werbung. Die Europäer werden dicker. Als ich zur Schule ging, waren zwei Dicke in der Klasse. Heute ist es oft die Hälfte der Schüler.
Was den Jugendlichen des dritten Teils im schwierigen Alter der Pubertät bewusst wird?
Da ist das Thema anders gestellt, denn sie sind unschuldig. Sie haben kein optisches, sondern ein gesundheitliches Problem. Die Ursachen liegen in der Vereinsamung der Kinder, die nach der Schule unkontrolliert zum Essen greifen.
Dazu kommt die ständige Verfügbarkeit von schlechter Nahrung und Bewegungslosigkeit. Die Politik tut dagegen nichts, weil die Wirtschaft das verhindert.
Eine der Ursachen ist auch Stress?
Kinder lernen Konkurrenz und Ehrgeiz nicht mehr über Sport und Spiel. Sie werden in allen Bereichen von klein auf unter Druck gesetzt, der Beste sein zu müssen. Das finde ich schrecklich. Sie brauchen den Freiraum, loslassen zu können und ihren Weg zu suchen.
Nach welchen Prämissen haben Sie die Annäherung einer Jugendlichen an den Arzt gestaltet?
Ich bin von Nabokovs »Lolita« fasziniert und wollte zeigen, dass sich ein erwachsener Mann durchaus in ein minderjähriges, pubertierendes Mädchen verlieben kann und sie sexuell begehrt. Die Frage ist nur, wie geht er damit um. Der Kampf eines Mannes, der nicht gedankenlos seiner Sehnsucht nachgibt, war das Thema.
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