Vernichtende Kräfte

»Leviathan« von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel

  • Alexandra Exter
  • Lesedauer: 3 Min.

Natur, Mensch und Maschine bilden die Gewalten, die in diesem neuen filmischen »Leviathan« aufeinanderprallen, der Atlantikfischer vor der Küste Neu-Englands bei der Arbeit begleitet. Ein hypnotischer Film, der Begeisterung auslöst und Entsetzen, ein Horrorfilm, der auf alle Sinne wirkt, ein Massenmordspektakel an Fischen und Meerestieren - und ein neuer Maßstab für das, was ein Dokumentarfilm an Emotionen entfesseln kann, wenn er Experimente eingeht. Dabei ist es nicht die monumentale Schönheit der Bilder, die diesen Eindruck hervorruft: Die sind pixelig, oft dunkel und in ständiger Bewegung, außerdem meist extrem nah und schon deshalb (zunächst) eher desorientierend als überblicksfördernd oder ehrfurchtgebietend.

Regisseur Lucien Castaing-Taylor, Direktor des Harvard Sensory Ethnography Lab (einer Werkstatt für sinnliche Anthropologie), war mit »Sweetgrass« über die aussterbende Praxis der Transhumanz von Schafherden zur Sommerweide in den Bergen von Montana vor vier Jahren schon einmal ein Geheimtipp im Forum der Berlinale. »Leviathan«, deutlich experimenteller, wurde diesmal im Forum Expanded programmiert, der multimedialen Forum-Nebenreihe. Man könnte »Leviathan« einen intimen Blick auf die Hochseefischerei nennen, so nah sind die Filmemacher dran am Alltag der Fischer, wäre da nicht der überwältigende Eindruck von Ur- und Naturgewalten am Werk, von einem Kampf Mensch mit Maschine und Natur, von Ausgeliefertsein und Dominanzverhalten.

Die Seeleute führen im Akkord die immer gleichen Tätigkeiten aus, bei Wind und Wetter und Regen und nachts. Die Maschine ächzt, stöhnt, rumpelt und quietscht. Und die Fische in den Netzen sterben. In unerträglich unbarmherziger Nahaufnahme, zu Tausenden - tonnenweise, müsste man wohl sagen. Man hört das Heulen der Winschen aus der Perspektive des halbtoten Fangs im Netz (und sieht die Möwen oben schon lauern), man spürt das Krängen des Schiffs mit jedem Schwappen der Tiere im Wasser an Deck. Wer glaubte, Fische nicht respektieren zu müssen, weil sie ja blutleer seien, wird hier eines besseren belehrt. Es sind Ströme von Blut, die da mit Wasser, Fischköppen und Beifang durch die Speigatten von Deck gespült werden.

Gelegentlich sind Befehle zu hören, aber die meisten Dialoge zwischen den Fischern verschwimmen zu archaischen Lauten, Teil des Getöses von Wind, See und Motorenlärm. Meist wird gearbeitet und nicht geredet, einmal schläft ein müder Seemann in der Back über Packungen mit Käse, Chips und Fleisch vor der Kamera ein. Die Gesichter der Seeleute sind so rau wie Element und Wetter, in dem sie arbeiten. Galgenhumor haben sie, aber wenig Mitleid mit der Kreatur. Einer trägt eine tätowierte Meerjungfrau auf Schulter und Arm. Wie es dem armen Weib wohl erginge, sollte er ihr je leibhaftig begegnen?

Einmal tanzen Seesterne in der grünen See, aber der Zauber, den das Bild auslöst, weicht jäher Ernüchterung, als der Film die Szene nachreicht, die eben vorher stattfand, und man begreift, dass auch die Seesterne Opfer des menschlichen Hungers auf Proteine sind. Und längst nur noch tote Materie, mit dem Gummistiefel von Bord geschoben. Dabei ist es die vorindustrielle Fischerei und nicht die vollindustrialisierte schwimmende Fischfabrik, die hier Entsetzen auslöst. Aber der Mensch ist Täter und Opfer zugleich. Im Hintergrund dröhnt stets die Maschine, und die elementare Kraft der See ist auch in modernen Zeiten noch immer ein Risiko für Leib und Leben: Der Abspann nennt die Namen von Schiffen aus New Bedford, die nicht wiederkehrten. Und, als Mitwirkende und stumme Leidtragende, die gemeuchelten Tiere. Mit ihren lateinischen Artennamen, gleich nach dem Käpt’n und zwischen seinen Leuten, alphabetisch eingeordnet.

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