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Buch »Zerstörungslust«: Eigentümlich provinziell

In »Zerstörungslust« gehen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey der Persönlichkeitsstruktur der AfD-Wählerschaft auf den Grund

Symbol des destruktiven Staatsumbaus: Donald Trump lässt den Ostflügel des Weißen Hauses einreißen und stattdessen einen Ballsaal errichten.
Symbol des destruktiven Staatsumbaus: Donald Trump lässt den Ostflügel des Weißen Hauses einreißen und stattdessen einen Ballsaal errichten.

Gerd Wiegel, Fachreferent beim DGB, warnte unlängst auf einer Veranstaltung vor der Hoffnung, die AfD könnte ihr Wählerpotenzial »ausmobilisiert« haben. Tatsächlich breche die rechte Partei in immer neue Wählergruppen ein. Etwas Ähnliches hatte Wiegel schon vor zwei Jahren in der Zeitschrift »Luxemburg« konstatiert: Der Kreis derjenigen, die eine Wahl der AfD kategorisch ausschließen, liege nur noch bei 56 Prozent. Neueste Umfragen bekräftigen das: Die AfD ist dabei, sich als stärkste politische Kraft zu etablieren. Was aber ist es, das ihre Wählerschaft mobilisiert?

Mit ihrem neuen Buch »Zerstörungslust« wollen sich Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey gewissermaßen ins Zentrum dieser Debatte schreiben. Dabei geht es den in Basel lehrenden Forscher*innen, wie sie selbst schreiben, weniger um »eine Bestandsaufnahme neufaschistischer Projekte als vielmehr (um) eine Suche nach den Gründen, warum sie auf so viel Zustimmung stoßen«.

Gescheiterte Leben

Schon in den vergangenen Jahren hatten sich Amlinger und Nachtwey mit dem Phänomen des gesellschaftlichen Rechtsrucks beschäftigt. Für ihr vorheriges Buch »Gekränkte Freiheit« interviewten sie Angehörige der sogenannten Querdenkerszene, in der sich eine Freiheitsrhetorik mit offen autoritären Bestrebungen verschränkte. In Anlehnung an die Studien der Frankfurter Schule zum autoritären Charakter nimmt »Zerstörungslust« nun die Persönlichkeitsstruktur der AfD-Wählerschaft unter die Lupe.

Schon mit dem Titel ihres Buches verweisen die Autor*innen auf die Arbeiten Erich Fromms. Der Frankfurter Sozialpsychologe hatte Destruktivität und Autoritätshörigkeit in den 40er Jahren als zentrale Merkmale faschistischer Persönlichkeitsstrukturen identifiziert und sie mit der Erfahrung eines »vereitelten Lebens« erklärt. Vereinfacht zusammengefasst: In der kapitalistischen Moderne, so Fromm, fliehen Menschen vor Isolation, aber auch vor Verantwortung in die Unfreiheit und wenden die Frustration, eigene Wünsche nicht verwirklichen zu können, destruktiv nach außen.

Amlinger und Nachtwey geht es vor allem um die Wiederherstellung des nationalen Wohlfahrtsstaates.

Amlinger und Nachtwey zufolge lässt sich dieser Zusammenhang auch bei der extremen Rechten heutzutage beobachten. Oder in ihren Worten: »Destruktivität ist der sozioemotionale Kern des faschistischen Begehrens.« Zur Aktualisierung dieser These haben die beiden Soziolog*innen eine Befragung über die Verbreitung »destruktiver Einstellungen« unter 2600 Personen durchgeführt und mit einigen Dutzend »problemzentrierter Interviews« ergänzt.

Auf Grundlage dieses empirischen Materials meinen die Autor*innen »drei destruktive Typen« in der AfD-Anhängerschaft erkennen zu können: »die Erneuerer (sie wollen liberale Institutionen erschüttern, um traditionelle Hierarchien wiederaufzubauen), die Zerstörer (sie glauben nicht an Erneuerung und sehen die Zerstörung des Systems als Selbstzweck) und die Libertär-Autoritären (sie streben aus ideologischen Gründen nach einer Abschaffung des regulierenden Staates und wollen ihn durch autoritäre Alternativen ersetzen)«.

Kritik des Leistungsprinzips

Trotz ihres sozialpsychologischen Ansatzes bemühen sich Amlinger und Nachtwey durchaus um eine ökonomische Einordnung ihrer Beobachtungen. Aus ihrer Sicht sind es die sozialen Verheerungen des Neoliberalismus, die für die Ausbreitung destruktiver Persönlichkeitsstrukturen sorgen. Der Verlust von Aufstiegsmöglichkeiten, wachsende Ungleichheit und der Zerfall öffentlicher Infrastrukturen bereiteten, so Amlinger und Nachtwey, der extremen Rechten das Terrain. Denn auf Verlustängste reagierten Betroffene mit einer Abgrenzung gegen diejenigen, die sozial unter ihnen stünden.

Verdienstvoll ist, dass die Autor*innen hier auch die Rolle des meritokratischen Prinzips beleuchten. Ähnlich wie der spanische Soziologe César Rendueles in seinem Buch »Gegen Chancengleichheit« interpretieren sie die Leistungsideologie des Liberalismus als Treiber der autoritären Entwicklung. Die Aufwertung individueller Ideale wie Fleiß wirke sich, so Amlinger und Nachtwey, negativ auf das Selbstbild der Arbeitenden aus. Die gesellschaftliche Stellung werde nicht mehr auf Klassenverhältnisse, sondern auf persönliches Versagen zurückgeführt. Das wiederum verstärke Prozesse der Entsolidarisierung, denn »gerade Personen aus unteren Klassen werten jene ab, von denen sie glauben, dass sie keine Unterstützung ›verdienen‹. (…) Die geleistete harte Arbeit ist für Arbeiter*innen ein Identitätsmarker, der sie mit den mittleren und oberen Klassen verbindet.« Weil der Kampf um Gleichheit nur noch selten gewonnen werde, befürworteten Subalterne die soziale Ungleichheit besonders aktiv.

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In diesem Zusammenhang räumt »Zerstörungslust« dankenswerterweise auch mit der Vorstellung auf, dass es sich beim »Kulturkampf« um ein von materiellen Konflikten getrenntes Phänomen handele. Die symbolische Anerkennung von Frauen, Nichtweißen, Migrant*innen und nicht heterosexuellen Gruppen im »progressiven Neoliberalismus« intensiviert den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Weiße einheimische Männer hätten genau diesen Wandel als Macht- und Ressourcenverlust erlebt. Die neurechten Bündnisse sind deshalb, so Amlinger und Nachtwey, auch als »Allianzen der Verlustabwehr« zu interpretieren.

Weniger überzeugend als diese nicht unbedingt neuen, aber treffenden Schilderungen ist der empirische Teil von »Zerstörungslust«. Um »destruktive Einstellungen messen« zu können, haben Amlinger und Nachtwey drei einfache Aussagen formuliert, denen in den Interviews zugestimmt oder widersprochen werden konnte: »1. Wenn man gute Gründe hat, ist auch gewalttätiges Verhalten gerechtfertigt. 2. Ich denke, diese Gesellschaft sollte in Schutt und Asche gelegt werden. 3. Wenn ich an unsere politischen und sozialen Institutionen denke, kann ich nicht anders, als zu denken: ›Sollen sie doch einfach alle untergehen.‹« Vermutlich würden auch die meisten Streikenden in Frankreich diesen Aussagen zustimmen – allerdings aus ganz anderen Beweggründen als die AfD-Anhänger*innen. An dieser Stelle wäre es notwendig gewesen, zwischen der Zerstörung von Machtinstitutionen und einem gegen Menschen gerichteten Vernichtungswillen scharf zu unterscheiden.

Treiber des Faschismus

Das eigentliche Hauptproblem des Buchs ist allerdings der verwendete Faschismusbegriff. Im letzten Kapitel definieren Amlinger und Nachtwey die rechtsextreme Bewegung als einen »demokratischen Faschismus«, der »die bürgerliche Demokratie nicht zerstören, sondern von innen entliberalisieren will«. Angestrebt werde eine »alternative Gegenmoderne«, die als klassenübergreifende Bewegung »Stabilität gegenüber den kalten Rationalitäten, den fluiden und krisengeschüttelten Verhältnissen verspricht«. Damit grenzen sich die Autor*innen zwar vom Mainstream-Diskurs ab, wonach sich der Faschismus durch die Verteidigung liberaler Prinzipien stoppen lasse, und betonen die Bedeutung einer alternativen Sozial- und Wirtschaftspolitik: »Während der gegenwärtige Faschismus den Markt entfesseln will, sollte ein postliberaler Antifaschismus für das Gegenteil kämpfen: eine demokratisch eingebettete und zum Teil geplante Ökonomie und Gesellschaft.« Damit blenden sie jedoch die zentrale Frage aus, warum sich bedeutende Teile der Machteliten in Zeiten kapitalistischer Krise für eine faschistische Zuspitzung ihrer Herrschaft entscheiden und auf welchen Achsen diese Radikalisierung verläuft.

Im englischsprachigen Raum gibt es unter Linken eine breite Debatte darüber, inwiefern die Faschisierungsprozesse der Gegenwart weniger mit den Wahlerfolgen Donald Trumps als aus den Strukturen des Racial Capitalism und des karzeralen Staates erklärt werden müssten. In einer Rekonstruktion radikaler schwarzer Theorie, wie sie von W.E.B. Dubois, George Padmore, Angela Davis und George Jackson entwickelt wurde, haben abolitionistische Autor*innen herausgearbeitet, wie sich der Faschismus im Jim-Crow-System (im Süden der USA), im südafrikanischen Apartheid-Regime, im europäischen Kolonialrassismus und in den Polizei- und Gefängnissystemen gewissermaßen vorwegnimmt – und wie er aus diesen Strukturen hervorgeht. Für Theoretiker*innen wie Ruth Wilson Gilmore, Alberto Toscano, Robin D. G. Kelley oder Stuart Schrader sind die faschistischen Bewegungen der Gegenwart eine Vertiefung jener karzeralen und imperialistischen Herrschaft, auf der die bürgerliche Gesellschaft seit jeher beruht. Die Wiederherstellung nationaler Wohlfahrtsstaaten kann die Destruktivität dieser Herrschaftsform nicht stoppen.

Amlinger und Nachtwey sind diese Debatten vermutlich nicht gänzlich unbekannt. Wenn sie dessen ungeachtet ausschließlich innerhalb des Nationalstaats und seiner Sozialsysteme argumentieren, verstellen sie den Blick auf eine zentrale Dimension des Faschismus: den offenkundigen Umstand, dass die Verschärfung des Rassismus auch als Ausdruck sich zuspitzender Ressourcenkonkurrenz innerhalb eines ökonomischen Weltsystems verstanden werden muss. Stattdessen reduziert sich der Blick bei ihnen auf die Betrachtung unglücklicher deutscher Seelen, die nach dem Ende der Aufstiegsgesellschaft in einem Teufelskreis aus Verlustangst und Destruktivität gefangen sind. In dieser Hinsicht bleibt der Blick von Amlinger und Nachtwey auf eigentümliche Weise provinziell.

Die Frankfurter Schule verstand ihre Forschung immer auch als Reaktion auf den Ökonomismus, also auf die platte Ableitung gesellschaftlicher Prozesse aus wirtschaftlichen Strukturen. In der derzeitigen Debatte besteht eher die gegenteilige Gefahr: Materielle Zusammenhänge werden nur noch dort erkannt, wo sie die Sozialpsychologie der AfD-Wählerschaft betreffen. Doch wie die schwarze Kritik, aber übrigens auch Hannah Arendt schon vor bald 100 Jahren wussten: Faschismus ist mit Imperialismus untrennbar verwoben. Es geht immer auch darum, den Zugang zu Ressourcen zu erobern und »Überflüssige« außen vor zu halten oder zu vernichten. Dass diese Dimension des Faschismus ausgeblendet bleibt, muss wohl als bewusstes politisches Statement der Autor*innen verstanden werden.

Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus. Suhrkamp, 453 S., geb., 30 €.

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