6. Prozesstag im NSU-Prozess

Vernehmung von Carsten Schultze fortgesetzt / Bayerischer Untersuchungsausschuss tritt wieder zusammen

  • Lesedauer: 9 Min.
Der erste Prozesstag des Junis hatte es in sich. Cirka 10 Stunden lang dauerte die Verhandlung. Einzelheiten berichtet Friedrich Burschel im Gespräch mit Sophia Springer. "neues deutschland" veröffentlicht das Interview mit freundlicher Genehmigung von Radio LOTTE.

6. Prozesstag 5. Juni 2013

Aus Sicht der Bundesanwaltschaft ist der sechste Prozesstag gut verlaufen. Der Angeklagte Schultze habe im Grunde das ausgesagt, was er auch schon in den vorangegangenen Vernehmungen zugegeben hat. Offenkundig machte er sogar weitergehende Angaben zu seiner Beteiligungen an Straftaten. So habe er beispielsweise detaillierter über einen Überfall auf zwei Personen in Jena berichtet.

Der NSU-Prozess in den Medien
 

NSU-Prozess: Die Protokolle von NSU Watch

Das NSU Watch Blog veröffentlicht auf seiner Webseite www.nsu-watch.info Protokolle der einzelnen Prozesstage am Oberlandesgericht in München auf deutsch, englisch und türkisch.

Protokoll 1. Verhandlungstag vom 6. Mai
Protokoll 2. Verhandlungstag vom 14. Mai
Protokoll 3. Verhandlungstag vom 15. Mai
Protokoll 4. Verhandlungstag vom 16. Mai
Protokoll 5. Verhandlungstag vom 4. Juni
Protokoll 6. Verhandlungstag vom 5. Juni
Protokoll 7. Verhandlungstag vom 6. Juni
Protokoll 8. Verhandlungstag vom 11. Juni
Protokoll 9. Verhandlungstag vom 12. Juni
Protokoll 10. Verhandlungstag vom 13. Juni
 

Medienschau zum NSU-Prozess

Der NSU-Prozess wird von einer enormen medialen Aufmerksamkeit begleitet. Hier finden Sie eine Übersicht über die wichtigsten Blogs, Liveticker, interaktiven Grafiken und Dossiers zum Thema "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und zum Prozess am OLG München. Mehr

 

 

 

 

 

Neu sei gewesen, dass sogar regionale Zeitungen über den Vorfall, der sich jetzt zeitlich eingrenzen lasse, berichtet haben. Die Bundesanwälte werden die Erkenntnisse an die zuständigen Stellen weitergeben. Noch könne man nicht sagen, ob es sich um eine verjährte Körperverletzung gehandelt hat oder ob man von einer nicht verjährbaren Tötungsabsicht ausgehen muss.

Der Fakt wirft erneut die Fragen auf, wer welche Straftat bewertet. Immer wieder wird deutlich, dass rechtsextreme Motive unterschlagen werden und schwere Straftaten so in der normalen Straftatenstatistik verschwinden.

Einer von Schultzes Anwälten bittet ums Wort und weist darauf hin, dass sein Mandant “kräfte- und konzentrationsmäßig” am Limit ist. Doch der Vorsitzende möchte noch Fragen stellen zum Thüringer Heimatschutz (THS) und der Kameradschaft Jena. Zudem möchte er noch schlauer werden, was den technischen Ablauf der Telefonate betrifft, die Schultze mit dem Untergrund-Trio geführt hat. Schultzes Verteidigung bittet dennoch um eine Unterbrechung. Der Vorsitzende lässt sich erweichen und unterbricht die Sitzung bis morgen. Möglicherweise ist morgen der Mitangeklagte Holger Gerlach mit seiner Befragung dran.

Kurz nach 15 Uhr verlangte es den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl nach einer Pause. Und in der Tat, die Befragung des Angeklagten Carsten Schultze ermüdete. Immer länger wurden die Pausen zwischen den Fragen des Vorsitzenden und den Nicht-Antworten des Angeklagten. Der nicht nur – bisweilen durchaus begreifliche – Erinnerungslücken geltend macht, sondern auch immer wieder Schwierigkeiten mit zeitlichen Abfolgen von Geschehnissen hat.

Immer wieder glaubt er, dass vieles von dem, was vor Gericht erörtert wird, später stattgefunden haben müsse. Doch in den Akten stehe das eben anders, lenkt Schultze mehrmals ein. Das allerdings wirft wieder einmal Fragen zu Ermittlungsergebnissen auf, die vom Bundeskriminalamt an den Generalbundesanwalt übermittelt wurden und die in der Anklage als “gesetzt” gelten.

Aus den Schilderungen des Angeklagten wird weiter deutlich, wie verzweigt das Netzwerk der Neonazis bereits Ende der 90er Jahre allein in Thüringen war. Die restlichen Angeklagten nehmen Schultzes Einlassungen mit stoischer Ruhe auf. Ob heute noch die Bundesanwälte und die Vertreter der Nebenkläger zu Wort kommen ist ungewiss.

Mittagspause. Zuvor hatte der Vorsitzende Götzl die Vernehmung von Carsten Schultze fortgesetzt. Zwischen schlicht und vage waren dessen Auskünfte insbesondere dann wenn es um seine Motive ging, in der rechtsextremistischen Szene mitzutun.

Der Dialog zwischen den Vorsitzenden und dem Angeklagten hatte stellenweise skurrile Züge. Vor allem dann, wenn Götzl versuchte, zu ergründen, was die jungen Leute, die sich in der Neonaziszene von Jena zusammenführte. Schultze machte es ihm aber auch nicht leicht. Wie auch soll man erklären, dass eine mobile Dönerbude zum “Feindbild” gehörte und deshalb nächtens umgestürzt werden musst. Der Angeklagte, war immer nur dabei, nie vorneweg, hat jedoch auch nie gebremst.

“Ich bin einfach mitgegangen.”

Auch als sie zwei andere junge Leute in einer Holzbude zusammengeschlagen haben, weil einer von denen einen Kameraden “Nazi geschimpft hatte”. Schultze erinnert sich, dass auch er zweimal zugetreten hat. In der Zeitung habe er dann gelesen, dass die beiden Opfer schwer verletzt wurden. Dann schilderte er das nächtlich in Jena so beliebte “Unterhaltungsspiel” namens “Cops running”. Man habe sich einen Spaß daraus gemacht, denen eins auszuwischen. “Zu einem guten Abend gehörte auch eine Polizeikontrolle dazu.” Nur langsam ließ er sich darauf ein, über Motive, vor allem politische Motive zu reden. Er sei vor allem über die Musik an die Naziszene herangekommen. “Die Texte waren lustig”. Dann bestellte er die Info-Post von NPD und JN. Als seine Eltern die weggeworfen haben, mietete er sich ein Postfach. Da waren Themen, mit denen er sich identifiziert habe. Nur spärlich erinnerte er sich an die Themen bei den Schulungs- und NPD-Kreisverbandstreffen. Es ging um “das Reich”, die “alten Grenzen” Deutschlands, es ging “gegen die multikulturelle Gesellschaft”, das “jüdische Finanzkapital, das uns beherrschte”, seien thematisiert worden. Bücher, die den Holocaust leugneten habe es zwar gegeben, doch er habe sie nicht gelesen. “Überhaupt habe ich kaum Bücher gelesen”, sagte der Angeklagte.

Noch immer konnte der Richter nicht erkennen, was Schultze so in die rechtsextremistische Szene gezogen hatte. Das wurde deutlicher, als Schultze meinte, dass er als einer aus dieser Truppe “in Winzerla von Leuten gegrüßt wurde, die mich früher gemobbt hatten”. Er habe “Respekt” erfahren, “da ging’s mir gut”, da habe er sich “stark gefühlt”.

Offenbar fühlte er sich auch geehrt, als der jetzt mitangeklagte Ralf Wohlleben und der Neonazi-Führer André Kapke ihn baten, den Telefonkontakt zu den drei abgetauchten Bombenbauern Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zu halten. Sein “Freund” Wohlleben und Kapke hätten wohl befürchtet, abgehört zu werden. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe habe er vor ihrem Verschwinden Anfang 1998 nur flüchtig gekannt. Die gehörten “zu den Älteren”. Für ihn war klar. “Wir stehen für einander ein.” Laut Schultzes Einlassungen war auch der mitangeklagte Holger Gerlach in den Kontakt mit den untergetauchten Neonazis involviert.

Offen wie ein Buch - und auskunftswillig

Nur in seltenen Fällen liegt die “Seele” eines Angeklagten bei der Befragung vor Gericht offen aus wie ein Buch. Bei Carsten Schultze jedoch kann man kaum darin blättern. Er schützt sich nur selten mit den Worten: Ich kann mich nicht erinnern. Er scheint wirklich auskunftswillig.

Doch was er sagt, lässt eine kritische Reflektion seiner Zugehörigkeit zur rechtsextremistischen Szene und damit auch zu seinen hier angeklagten Straftaten vermissen. Der Mann, der seit Jahren in einem Zeugenschutzprogramm aufgehoben wird, ist angeblich um die Jahrtausendwende aus der Neonazi-Szene ausgestiegen. Vor allem, weil er sich als Homosexueller da wahrlich nicht geborgen fühlen konnte.

Der gelernte Autolackierer Schultze ging von Jena in den Westen, studierte in Düsseldorf an einer Fachhochschule, engagierte sich in mehreren schwul-lesbischen Initiativen, übernahm einen Job bei der AIDS-Beratung. Er muss also tagtäglich erlebt haben, wie wichtig Mitmenschlichkeit und Toleranz bei Zusammenleben von Menschen sind.

Da ist es nahezu ausgeschlossen, dass er sich mit seinem “Andocken” bei rechtsextremen – und wie man heute weiß – rechtsterroristischen Strukturen so wenig auseinandergesetzt hat, wie er das hier erkennen lässt. Hat er sich nie gefragt, was Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, deren Kontaktmann er war, im Untergrund getrieben haben. Schultze, der Beschaffer der Mordwaffe Ceska 83, bewegte sich in Jena hochkonspirativ. Er muss zumindest geahnt haben, dass dies nicht nur ein Spiel zum Ärgern der Polizei war. Es wird an der künftigen Befragung liegen, wie weit Schultze bereit ist, auch politisch zu outen.

Carsten Schultze im Kreuzverhör

Die Angeklagten erscheinen. Zschäpe hält sich an das selbst gewählte Ritual. Rücken zu den Kameras. Inzwischen gibt es (zum Glück) kaum noch einen Medienkollegen, der sich für ihre Kleidung oder die Ohrringe interessiert. Wohlleben erscheint wieder mit seinen Einkaufsbeutel. Aufdruck; Jena. Das muss den Bürgern der Stadt den Magen umdrehen, oder? Das ist die Stunde der Fotografen und Kameraleute. Wenn die Richter erscheinen, müssen sie den Saal verlassen. Die Richter erscheinen, der Vorsitzende Manfred Götzl klärt die Präsenz.In wenigen Minuten müsste der sechste NSU-Prozesstag eröffnet werden.

Mit einiger Spannung wird das “Kreuzverhör” erwartet, dem der Angeklagte Carsten Schultze heute ausgesetzt sein wird. Zahlreiche Details zur Unterstützung der Szene für die abgetauchten späteren Rechtsterroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sind bereits gestern zur Sprache gekommen. Es wird eine große Aufgabe sein, das, was im Prozess über die Terrortaten des NSU und das Versagen der Sicherheitsbehörden zutage gefördert wird, mit den Erkenntnissen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur verknüpfen. Wer kann diese Arbeit leisten? Kein Zweifel, dass sie eine wichtige Grundlage ist, um die Weichen für die weitere Entwicklung von Demokratie und Rechtsstatt richtig zu stellen.

München (nd-Heilig). Mittwochmorgen, Sonne hat den Dauerregen ersetzt. Im Justizgebäude in der Nymphenburger Straße ist der sechste Verhandlungstag im sogenannten NSU-Verfahren gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier Helfer aus dem Neonazi-Netzwerk angesetzt. Der Prozess ist längst nicht mehr Aufmacher in den Zeitungen. Die »Süddeutsche« druckt auf Seite 1 ein Kanzlerin-Hochwasser-Überflugbild, andere regionale Blätter kündigen die Schlamm-Schlacht nach dem Hochwasser an.

Vor dem Gerichtsgebäude fegt ein Hausmeister die Reste des Vortages zusammen, die zur weiträumigen Abschirmung eingesetzt sind, entdecken einen Falschparker, zehn Minuten später ist der Golf Huckepack auf einem Abschlepper verladen. Die Kantine sendet Abwehrgerüche in die Umgebung, es soll offenbar Gulasch angeboten werden.

Pünktlich um 7.30 Uhr beginnt der Einlass. Noch sind nur wenige Journalistenkollegen zur Berichterstattung angetreten. Die »Tageszeitung« ist unter den ersten. Auch der »nd«-Berichterstatter ist überpunktlich. Unser Blatt teilt sich einen Berichterstatterplatz mit den Kollegen der türkischen Zeitung »Evrensel«, die beim zweiten Akkreditierungsverfahren vom Los bevorzugt worden ist. In dieser Woche übernehmen wir die Berichterstattung vom Prozess.

Am heutigen Mittwoch stellen sich Prozessbeobachter nicht gerade in Scharen an, um sich akribisch von mehr als einem Dutzend Polizisten und zahlreichen Justizbediensteten kontrollieren zu lassen.
Im unteren Bereich des Saales beginnt büromäßige Geschäftigkeit.

Nur der Justizwachtmeister, mit dem sich die Angeklagte Zschäpe gestern in einer der zahlreichen Unterbrechungen so angeregt unterhalten hat, lässt sich nicht aus seiner Ruhe bringen.Noch sind auch nur wenige uniformierte Bewacher im Verhandlungssaal. Wenn der Prozess dann ins Laufen gekommen sein wird, kann man dann sicher wieder bis zu zwei Dutzend Polizisten zählen.

Der Tag wird – so sich die Verteidiger der Angeklagten nicht auf neue Anträge verständigt haben – mit der Vernehmung von Carsten Schultze fortgeführt. Der hatte gestern davon berichtet, wie er in die rechtsextreme Szene hineingekommen und später, als er erkannt hatte, dass er als schwuler junger Mann dort wahrlich nicht gut aufgehoben ist, ausgestiegen ist. Dennoch bleibt der Fakt, dass er im Auftrag des ebenfalls angeklagten Ralf Wohlleben Kontakt zu den drei untergetauchten Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gehalten hat. Er besorgte die Waffe, mit der neun Menschen umgebracht wurden.

Am heutigen Tag setzt auch der NSU-Untersuchungsausschuss im Bayrischen Landtag seine Aufklärungsarbeit fort.

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